Mittelschwaebische Nachrichten
Beim Lesen viel geweint
Der Roman „Ein wenig Leben“will unbedingt erschüttern
„War Freundschaft an sich kein Wunder?“
Dieser Roman ist das Gegenteil von elegant. Er ist laut und maßlos. Er leidet nicht an vielem, aber am Zuviel und letztendlich auch an zu vielen Seiten. Knapp 1000 nämlich, auf denen die New Yorker Schriftstellerin und Journalistin Hanya Yanagihara in ihrem Roman „Ein wenig Leben“der jahrzehntelangen Freundschaft von vier Männern folgt. In Amerika wurde das Werk gefeiert, der New Yorker sprach überschwänglich von einem Roman, der einen verrückt machen, verschlingen und das Leben übernehmen könne. Kritiker bekannten sich, passagenweise geweint zu haben. Etwas weniger emotional geht es angesichts dieses Romans offenbar nicht!
Jude, Willem, Malcom und JB. Das sind die vier, um die es geht und deren gemeinsame Geschichte zu Tränen rühren kann. Vier Jungs unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe, die sich auf einem College an der Ostküste kennenlernen, zu viert ein Zimmer teilen, nur noch die „Boys in the Hood“genannt werden. Alle vier werden im Laufe ihres Lebens in New York zu Stars in ihrem Beruf: Willem als Schauspieler, Malcom als international tätiger Architekt, JB als Künstler mit Austellungen im MoMA, und Jude als brillanter Wirtschaftsanwalt. Mittelmaß gibt es in diesem Roman nicht. Es muss daher schon auch der Oscar sein, den Willem gewinnt.
Doch während drei der Jungs sich ihre Freundschaft zu Beginn auch dadurch versichern, dass sie den anderen etwas von sich preisgeben, hält sich einer zurück. Jude, durch einen Zusammenprall mit einem Auto gehbehindert – mehr wissen die Freunde lange nicht –, schweigt zu allem, was seine Vergangenheit betrifft. Auch seine unerträglichen Schmerzattacken versucht er geheim zu halten, ebenso wie seine zahlreichen Verletzungen, die er sich mit einer Rasierklinge selbst zufügt und unter langärmeligen Hemden verbirgt. „Das war nun mal Teil der Vereinbarung, wenn man mit Jude befreundet war. Man ging gewissen Dingen nicht nach, obwohl es der eigene Instinkt nahelegte, man umschiffte den eigenen Argwohn.“
Wie Hanya Yanagihara dessen Geschichte langsam entrollt, sie in den Mittelpunkt rückt, wie sie den Schrecken anwachsen lässt, das Entsetzen, ist überaus gekonnt. Dass man sich dem Roman kaum entziehen kann, liegt vor allem an dieser in Thrillern und anderer Spannungsliteratur bewährten Machart. Yanagihara nutzt die Methode aber nicht nur als simplen und manipulativen Kunstgriff: Im Romanaufbau spiegelt sich zugleich ein zentrales Thema wider, die Unfähigkeit Judes, das Grauen, das er erlebt hat, in Worte zu fassen. Irgendwann werde er darüber sprechen müssen, sagt die Sozialarbeiterin Ana, aber dieses Irgendwann zieht sich hin fast bis zum Ende des Romans.
Stückchenweise also erfährt der Leser die Leidensgeschichte von Jude: als Baby „in einem Müllsack voll mit Eierschalen altem Salat, verdorbenen Spaghetti“ausgesetzt, aufgezogen, gedrillt und gequält von Franziskanermönchen, missbraucht von allen, die für ihn sorgen sollten. Das Martyrium des Jude St. Francis. Und weil die Erinnerung ihn aus der Hölle nicht entlässt, endet das Leiden selbst dann nicht, als er das Schlimmste bereits überlebt hat. Als das Leben ihn nun ebenso maßlos beschenkt: mit Liebe, mit Freundschaft, mit Erfolg. Als statt der Satanswesen aus der Vergangenheit sich gute Geister um ihn scharen; Willem, der Filmstar, mit dem er eine symbiotische Beziehung eingehen wird, Harold, sein Professor, der ihn adoptieren wird, Andy, sein Arzt, der für ihn zu jeder Tagesund Nachtzeit die Praxis öffnet. „Als hätte das Leben nicht nur für Ausgleich gesorgt, sondern mehr als das getan, als wollte sein Leben ihn um Verzeihung bitten, als wollte es Schätze vor ihm auftürmen, ihn mit allem überhäufen, was schön und wunderbar war und was er sich erhofft hatte, damit er ihm nicht grollte, ihm erlaubte, ihn weiter voranzutragen.“
So wie sich diese wenigen Zeilen lesen, so liest sich auch der Roman: Nach Schreibrausch, in dem das eine oder andere schiefe Bild nicht kümmert. Nach Pathos, als seien die Sätze alle einmal durchs Gefühlsbad gezogen. So aber ist es von der Autorin gewollt. „Ich wollte eine Übertreibung von allem, eine Übertreibung der Liebe, des Mitgefühls, des Mitleids, des Schreckens“, hat Hanya Yanagihara in einem Interview mit dem Guardian erklärt: „Ich wollte, dass alles ein bisschen zu laut aufgedreht ist.“Der Roman ist von ihr als Zumutung konzipiert. Er soll zudringlich sein.
Man will diesen Roman weglegen, er ist passagenweise unerträglich in seiner Schwarzweißmalerei, mit seiner immerwiederkehrenden Schilderung von Schmerz und Grausamkeit, in all seinem Gefühlsüberschwang. Man tut es nicht, dafür ist er zu versiert gemacht. Und dafür ist die Botschaft hinter den vielen Zeilen dann doch zu schön. „War Freundschaft an sich kein Wunder – einen anderen Menschen zu finden, der die ganze einsame Welt irgendwie weniger einsam erscheinen ließ.“Mit großer Zärtlichkeit schildert die 1975 geborene Yanagihara die Beziehung zwischen den Männern. Findet Worte, die nach ihrer Erfahrung ihren Freunden fehlen, wenn sie Gefühle ausdrücken wollen. Und stellt die Frage: Kann Freundschaft der größte Halt in einem Leben sein? So liest sich dieser Roman zu guter Letzt auch wie eine Hymne. Die Emotionen sind frei… Man sollte schon auch weinen wollen, wenn man dieses Buch lesen möchte. Stefanie Wirsching