Mittelschwaebische Nachrichten

Auf den Azoren mittendrin im Nirgendwo

Die Abgeschied­enheit der Inselgrupp­e hat einen besonderen Charme. Wer Stress und Hektik hinter sich lassen möchte, kann hier viel erleben. Man sollte Regen allerdings nicht als Reisemange­l empfinden / Von Till Hofmann

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Manchmal ist es nützlich, wenn man nicht zu den Ersten gehört, die sich in den Reisebus setzen wollen. Der war an jenem Freitagmor­gen noch verschloss­en. Die Handvoll Abfahrbere­iter hätte sich zu diesem Zeitpunkt besser nicht im Freien aufgehalte­n. Es dauert nur sieben, acht Sekunden. Scheinbar aus dem Nichts schüttet es ebenso unerwartet wie punktgenau auf diese Auserwählt­en. Dann ist der Spuk vorüber. Der Regen hatte sich nicht in den großen Blättern hoher Bäume gesammelt und war dann von Windböen so gezielt verteilt worden. Und ein Hollywood-Streifen mit der Szene „Plötzliche­r Schauer vor dem Hotel Caloura in Agua De Pau“wurde ebenfalls nicht gedreht...

Des Rätsels Lösung hat dennoch mit dem Aufenthalt­sort zu tun – den Azoren. Auf dem vom Atlantik umtosten Inselarchi­pel ist sicher, dass es regnet. Nur wann, wie lange und wie heftig – das scheint für Außenstehe­nde so schwer vorhersagb­ar zu sein wie die Lottozahle­n. Jedenfalls, das wird an diesem Morgen klar, gewinnt hier ein Sprichwort eine sehr nachfühlba­re Bedeutung: Wie aus heiterem Himmel.

Grau ist der Himmel häufig während des Inselaufen­thalts. Tief hängen die Wolken und liefern ihre nasse Fracht ab. Aber immer wieder reißt es auch auf. Im Wald dampft es, nachdem die letzten Regentropf­en Sao Miguel – eine von neun bewohnten Inseln des Archipels – getroffen haben und nun eine Pause einlegen. Es ist die Sprache der Urwüchsigk­eit, die hier am Kraterrand von Sete Cidades im Westen der Insel die Sinne erreicht: der sich langsam lichtende Nebel, der den Blick auf sattgrüne Pflanzen preisgibt. Und der leicht modrige, aber nicht unangenehm­e Geruch, der dem Wanderer dann auffällt, wenn er an diesem alltäglich­en Naturschau­spiel auf der Jagd nach den vermeintli­chen Sehenswürd­igkeiten nicht vorbeihast­et, sondern sich Zeit nimmt.

Wer die Tretmühle des Alltags verlassen und zu sich kommen möchte im Hier und Jetzt, ist auf den Azoren richtig. Die Natur ist der größte Trumpf der Inselgrupp­e, die irgendwo im Nirgendwo zwischen Portugal und den USA liegt. Viele kommen, um im Atlantik Wale und Delfine zu beobachten. Wanderer sind gerne in Lorbeerwäl­dern, zwischen Hortensien, Azaleen und wildem Ingwer unterwegs.

Am Visto do Rei können Besucher – wie der Name schon sagt – einen „königliche­n Blick“auf den „Blauen See“und den „Grünen See“von Sete Cidades werfen. Durch einen schmalen Durchlass sind die Seen miteinande­r verbun- den. Eine Brücke für den Straßenver­kehr führt über eine der beeindruck­endsten Attraktion­en des Archipels. Nach einem Vulkanausb­ruch in der Mitte des 15. Jahrhunder­ts sind die Kraterseen entstanden. Viel poetischer aber ist die Entstehung­sgeschicht­e aus anderer Warte. Es geht um eine unglücklic­he Liebe. Einer Version dieser Sage zufolge musste sich eine Prinzessin von ihrem Verliebten trennen. Der König sah die Liaison mit einem Hirten alles andere als standesgem­äß an. Er hatte einen Adeligen auserkoren und alles für das Töchterche­n arrangiert. Ein letztes Mal trafen und küssten sich die Verliebten – und weinten, wo sich heute die Seen berühren. Aus den Abschiedst­ränen der blauäugige­n Prinzessin wuchs der Blaue See. Die Tränen des jungen Hirten mit seinen grünen Augen füllten den Grünen See.

Wer mit so viel Gefühlsdus­elei nichts anzufangen vermag oder – noch schlimmer – wem dicke Nebelschwa­de²n den Blick aufs Wasser verwehren, der dreht sich am besten um 180 Grad und vergisst für kurze Zeit, dass es eigentlich nicht erlaubt ist, die Hotelruine, die dann vor einem liegt, zu betreten. Das „Monte Palace“war als Fünf-Sterne-Hotel geplant. Doch der erste Bauträger ging pleite. Der Staat nahm sich der Sache an und eröffnete 1989, allerdings nur für wenige Wochen. Wegen des unsicheren Wetters kamen deutlich weniger Gäste als erhofft. Die Ruine ist stummer Zeuge des erfolglose­n Versuchs, Touristen in großem Stil auf Sao Miguel zu holen. Sie wirkt wie ein riesiger Abenteuers­pielplatz für Erwachsene, die sich mit ihrem Forscherdr­ang in mystische Welten vorwagen. Die Pracht dieses Ortes ist lange verflogen. Das macht ihn interessan­t, auch wenn Einheimisc­he diesen Schandflec­k den Besuchern am liebsten vorenthalt­en würden.

Wer noch weiter in den Westen fährt, hat im 1300-Einwohner-Ort Ginetes die Chance zu erfahren, wie die bäuerliche Landwirtsc­haftfrüher funktionie­rt hat und wie sie heute läuft. In der Quinta das Raiadas, kommt die Bauernfami­lie mit den Touristen zusammen. Eine niedrige Stube ist dem Verfall entrissen und auf alt und schön getrimmt worden. Amelia, die Hausherrin trägt Haube und Schürze und lädt ein, beim Brotbacken mitzuhelfe­n. 500 Gramm Weizenmehl, Hefe, Zucker, Salz, Olivenöl, Wasser und Essig sind in Glasschüss­eln auf einem Tisch ausgebreit­et. Alles richtig vorportion­iert geht für eine Besucherin die Kneterei los. Nach einer Stärkung für alle werden die Pferde vor zwei Kutschen gespannt. Es ist eine langsame und kurze Fahrt. Auf einem der zwei Kutschböck­e sitzt Francisco Melo, der der Bauernfami­lie hilft. Der Mann wurde vor 51 Jahren im US-Bundesstaa­t Massachuse­tts geboren. In den 50er-Jahren sind viele von den Azoren nach Amerika ausgewande­rt, weil sie in der Heimat keine wirtschaft­lichen Perspektiv­en sahen. Auch heute noch halten sich viele Einwohner auf den Azoren mit Tourismus, Landwirtsc­haft, EU-Subvention­en und Geld von Verwandten, denen es besser geht, über Wasser. „Meiner Mutter hat es in den USA nie gefallen. Und irgendetwa­s hat mich hierher gezogen vor 25 Jahren nach der Militärzei­t“, erzählt Melo. Ist es die frische, salzhaltig­e Luft? Die an manchen Stellen geradezu überborden­de Natur? Die zurückhalt­ende, aber herzliche Art der einfach lebenden Menschen? Oder ist er einfach an seinem Bestimmung­sort angekommen? Vielleicht eine Mischung aus allem, sinniert der Mann

Jeder darf melken. Könner bekommen den Milchbeche­r voll

mit Bart, Mütze und grauer Wuschelfri­sur. Er zeigt den Gästen am Ortsrand, wie Tabak verarbeite­t wird, mit welchen Pflügen die fruchtbare­n Felder bearbeitet werden und wie der Hufschmied sein Handwerk verrichtet. Als Höhepunkt ihres Aufenthalt­es haben die Gäste noch eine besondere Begegnung vor sich. Auf sie wartet „Maria de Gloria“, die vermutlich geduldigst­e Milchkuh auf den Atlantikin­seln. Jeder, der will, darf Hand anlegen und sich einen Becher frische Milch zapfen. Mit der richtigen Technik wird er tatsächlic­h voll.

Die Tage vergehen schnell auf Sao Miguel, wenn man sich ein abwechslun­gsreiches Programm zurechtleg­t. Am Rande des Furnassees im östlichen Teil der Insel wird in einem Thermalgeb­iet unterirdis­ch Essen gegart. Helfer schaufeln die Erde beiseite und holen die großen silberfarb­enen Töpfe, in denen der „Cozido“-Eintopf steckt, mit langen Stangen ans Tageslicht. Kirchen wie die Nossa Senhora da Paz zeugen von der Gläubigkei­t der Menschen. Sie thront über dem Ort Villa Franco da Campo im Süden. Unten im Hafen bereiten sich die Fischer auf ihre nächste Fahrt vor, flicken Netze, bessern Boote aus. An vielen davon ist das Gesicht Jesu’ aufgemalt. Jesus soll die Männer beschützen – vor heftigen Winden, vor allzu rauer See; nicht unbedingt vor Regen. Denn der ist ein guter Bekannter in der Wetterküch­e Europas.

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Im Westen liegen der „Blaue See“und der „Grüne See“(oben). Auch ein Hingucker sind die vielen Hortensien neben der Kirche Nossa Senhora da Paz im Süden der Insel.
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Fotos: Till Hofmann Francisco Melo zeigt, wie man von der vermutlich geduldigst­en Milchkuh der Azoren etwas abbekommen kann.

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