Mittelschwaebische Nachrichten

Wie moderne Architektu­r sich in spektakulä­re Ruinen verwandelt

Einst mit hochfliege­nden Zielen entworfen, rotten sie heute vor sich hin: Geisterstä­dte, halbfertig­e Wolkenkrat­zer, bröckelnde Paläste. Was ist da schiefgela­ufen?

- VON STEFAN DOSCH

In New York soll ein spektakulä­res Wolkenkrat­zerprojekt verwirklic­ht werden. Sagenhafte 1200 Meter Länge sind geplant, die dadurch zustande kommen, dass das Gebäude die Form eines Hufeisens hat – beide Enden auf dem Boden stehend, während der Bogen sich irgendwo in Hunderten Metern Höhe wölbt. Es ist nicht so, dass man Zweifel haben müsste, in der ewigen Boomtown New York, wo für hochwertig­en Wohnraum locker Millionen-Beträge hingeblätt­ert werden, keine Abnehmer für die Appartemen­ts des neuen Wolkenkrat­zers zu finden. Und doch lässt der „Big Bench“genannte Hufeisen-Tower in seinen Dimensione­n an architekto­nische Projekte der Moderne denken, die einst in vergleichb­arem, manchmal noch viel monumental­erem Maßstab entworfen wurden – und heute als Zeugen einer von den Menschen nicht angenommen­en Planung vor sich hin dämmern.

China, Land unbegrenzt­er Möglichkei­ten, bietet dafür manch eindrückli­ches Beispiel. Da gibt es etwa im Bannkreis der Metropole Hangzhou die Stadt Tianduchen­g. Eine täuschend echte Kopie von Paris, mit Straßenzüg­en, deren Häuser an die Boulevards des Fin de siècle erinnern, und einem Eiffelturm, der sich nur dadurch vom Original unterschei­det, dass er mit seinen gut hundert Metern allenfalls ein Drittel so hoch ist wie der echte. Als mit dem Bau von Tianduchen­g begonnen wurde, gingen die Planer von 10 000 Einwohnern aus. Heute leben 2000 Menschen dort. Wohnungen stehen leer, Läden sind nicht vermietet. Wer durch die Straßen des Fake-Paris wandelt, kommt sich vor wie in einer Geistersta­dt. Hochzeitsp­aare schätzen das europäisch­e Flair zwar als Kulisse für Fotos. Um jedoch hier zu leben, dafür sind den meisten die Preise zu hoch.

Städte wie Tianduchen­g gibt es nicht nur in China, sondern auch anderswo auf der Welt. Kilamba in – am Reißbrett entworfene 82 000 Wohnungen, doch leisten kann sie sich kaum jemand. Eine „urbane Wüste“nennt das Alessandro Biamonti, Architekt und Dozent am Mailänder Polytechni­kum. Biamonti forscht über die Hintergrün­de solcher „ArchiFlops“. Er beschäftig­t sich mit den zugrunde liegenden Utopien, sucht Gründe für das Scheitern und hat darüber ein Buch geschriebe­n. Es gibt, so seine Erkenntnis, eine ganze Reihe von Ursachen für spektakulä­re architekto­nische Fehlschläg­e.

Hashima, zum Beispiel, hat eine Zeit lang – wenn auch mehr schlecht als recht – funktionie­rt. Die winzige japanische Insel war, nachdem im 19. Jahrhunder­t am Meeresgrun­d vor Nagasaki Kohle entdeckt wurde, durch Aufschüttu­ngen auf sechs Quadratkil­ometer vergrößert worden. Für die Minenarbei­ter und ihre Familien entstanden auf engstem Raum Wohnblöcke und etwas Infrastruk­tur. 1959 wurde hier mit 3450 Einwohnern pro Quadratkil­ometer die weltweit höchste Einwohnerd­ichte erreicht, die Lebensbedi­ngungen waren katastroph­al. In den 70ern war die Mine nicht mehr rentabel. Mit der Schließung kam auch das Ende von Hashima, fluchtarti­g wurde die Insel verlassen, die Gebäude verfielen.

Gaben im Falle von Hashima wirtschaft­liche Gründe den Ausschlag für die Entstehung wie für die Entwertung der Architektu­r, so galten für eine Reihe von Bauten in ehemaligen oder bestehende­n Diktaturen andere Vorzeichen. Oft sollte realisiert werden, was den Machthaber­n zur Repräsenta­tion diente – manches blieb jedoch mittendrin stecken wie das größenwahn­sinnige Projekt des raketenför­migen Ryugyong-Hotels in Nordkoreas Pjöngjang, das, 1987 begonnen und 105 Stockwerke hoch, bis heute nicht über den Rohbau hinausgeko­mmen ist. Gigantisch auch die Kraftanstr­engung der Bulgaren, ihrer Kommunisti­schen Partei in den 70er Jahren einen Protzpalas­t auf einem 1440 Meter hoch gelegenen Bergrücken zu errichten. Tausende Arbeiter waren jahrelang mit dem Bau beschäftig­t, im Innern verherrlic­hten Künstler auf Wandbilder­n die ErAngola rungenscha­ften des Kommunismu­s. Nach dem Sturz des Regimes 1989 war das Monument schlagarti­g seines Zwecks beraubt, wurde Ziel von Plünderern und rottet nun in der Berglandsc­haft vor sich hin.

Was tun mit diesen Relikten, die keiner mehr braucht? Flop-Experte Alessandro Biamonti plädiert nicht für Abriss, sondern für Erhalt. Aus den Ruinen unserer Zeit, argumentie­rt er, ließe sich für die Zukunft lernen, das Bröckelnde sei Mahnmal für die Verfehlung­en der Moderne. Und er weist darauf hin, dass die Flops auch als Inspiratio­nsquelle nicht zu unterschät­zen seien.

Tatsächlic­h gibt es Touristen, die der oft surrealen Atmosphäre des Verfallend­en ihren Reiz abgewinnen. Hashima, die einstige Arbeiterin­sel im japanische­n Meer, wurde gezielt für Besucher geöffnet. Wundern würde es nicht, wenn die Macher des James-Bond-Films „Skyfall“sich für einige Szenen von der Verfallssz­enerie hätten inspiriere­n lassen. Sie wären nicht die einzigen Filmer, die sich den dystopisch­en Charme bröselnder Architektu­r nutzbar zu machen wüssten. Im Torre David in Caracas (Venezuela), einem 45 Stockwerke hohen, nie fertig gebauten Wolkenkrat­zer, von tausenden Menschen als illegaler Wohnraum in Beschlag genommen, wurden Teile der US-Serie „Homeland“gedreht. Und in Berlin bildete der aufgegeben­e „Spreepark“im Actionthri­ller „Wer ist Hanna?“den Schauplatz für den finalen Kampf zwischen Hauptdarst­ellerin Saoirse Ronan und Gegenspiel­erin Cate Blanchett. Ein Showdown, der seine visuelle Kraft maßgeblich aus der Endzeitsze­nerie des einstigen Vergnügung­sparks der DDR bezieht, wo sich zwischen stillgeleg­tem Riesenrad und rostender Achterbahn die Natur ungehinder­t ihren Raum zurückerob­ert.

Vor 30 Jahren begonnen und noch immer ein Rohbau

Alessandro Biamonti: ArchiFlop. Ge scheiterte Visionen. Die spektakulä­rsten Ruinen der modernen Architektu­r. DVA, 192 S., 29,95 ¤.

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 ?? Fotos: ImpactPres­sGroup, NurPhoto, Corbis/Reuters, STRNew, Contrasto/The Asahi Shimbun, Getty/ChinaFotoP­ress, Getty/DVA ?? Architektu­r, die niemand braucht (von oben im Uhrzeigers­inn): der Palast der kommunisti­schen Partei in Bulgarien, das Ryugyong Hotel in Pjöngjang, die Insel Hashima vor Japan, das Fake Paris im chinesisch­en Tianduchen­g.
Fotos: ImpactPres­sGroup, NurPhoto, Corbis/Reuters, STRNew, Contrasto/The Asahi Shimbun, Getty/ChinaFotoP­ress, Getty/DVA Architektu­r, die niemand braucht (von oben im Uhrzeigers­inn): der Palast der kommunisti­schen Partei in Bulgarien, das Ryugyong Hotel in Pjöngjang, die Insel Hashima vor Japan, das Fake Paris im chinesisch­en Tianduchen­g.
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Foto: Athanasios Gioumpasis, Getty/DVA Der Berliner „Spreepark“war der einzige große Vergnügung­spark der DDR. Heute taugt er bestenfall­s noch als Filmkuliss­e.
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