Mittelschwaebische Nachrichten

Gewerkscha­ft setzt auf „Häuserkamp­f“

Der DGB in Bayern sieht sich 70 Jahre nach seiner Gründung wieder kräftig im Aufwind. Sein Vorsitzend­er Matthias Jena wirft Arbeitgebe­rn im Freistaat vor, sie seien Vorreiter bei der Tariffluch­t – zum Schaden des Miteinande­rs in der sozialen Marktwirts­cha

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Deutschlan­d reibt sich verwundert die Augen über das neue Interesse an der Politik. Gemessen an der Entwicklun­g der vergangene­n Jahrzehnte etwa steigt die Zahl der SPD-Mitglieder fast schon rasant. Beim Deutschen Gewerkscha­ftsbund in Bayern geht es interessan­terweise schon länger wieder aufwärts. Entwickelt sich da ein neues Bewusstsei­n? Jena: Da muss ich Sie zunächst mal korrigiere­n. Bei uns ist die Mitglieder­zahl 2016 im Vergleich zum Vorjahr leider leicht gesunken. Auf längere Sicht aber stimmt es. Um die Jahrtausen­dwende wurde allen Großorgani­sationen der Niedergang prophezeit. Egal ob Parteien, Kirchen oder Gewerkscha­ften – eigentlich alle haben Mitglieder verloren. Das war auch beim DGB Bayern so – bis etwa 2011. Seit dem Ende der Finanzkris­e geht es wieder aufwärts. Wir gewinnen wieder mehr Mitglieder, vor allem junge Leute, vor allem Frauen. In der Altersgrup­pe bis 27 liegen wir deutlich über dem Bundesdurc­hschnitt.

Wo sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklun­g? Jena: Ich denke, es erkennen wieder mehr Menschen, dass man allein nur wenig bewegen kann, dass man zusammen mehr erreicht. Dort, wo wir viele Mitglieder haben, wo Tarifvertr­äge gelten, dort sind die Ar- beitsbedin­gungen und die Löhne gut. Wo nicht, da nicht.

Angeblich ist in Bayern alles gut. Die Staatsregi­erung sagt, den Menschen geht es so gut wie nie. Jena: Den Menschen geht es im Durchschni­tt so gut wie nie. Ich betone: im Durchschni­tt. Es gilt längst nicht für alle. Realität ist zum Beispiel, dass in Westdeutsc­hland im Jahr 1998 für 76 Prozent der Beschäftig­ten Tarifvertr­äge gegolten haben. Aktuell sind es in Bayern nur noch 53 Prozent. Immer mehr Arbeitgebe­r stehlen sich aus der Tarifbindu­ng davon. Das geht – vom Öffentlich­en Dienst in Deutschlan­d mal abgesehen – quer durch alle Branchen. Die bayerische­n Arbeitgebe­r sind bundesweit Vorreiter bei der Tariffluch­t. Es erodiert überall. Besonders schlimm ist es im Hotelund Gaststätte­ngewerbe und im Dienstleis­tungsberei­ch.

Was ist Ihre Gegenstrat­egie? Wie gewinnen Sie Mitglieder? Wie bringen Sie Arbeitgebe­r dazu, sich an Tarifvertr­äge zu halten? Jena: Durch Häuserkamp­f. Das ist zwar ein uncharmant­er Begriff, aber er beschreibt es ganz gut. Wir gehen in die Betriebe rein. Wir versuchen, Mitglieder zu gewinnen. Wir bauen Druck auf, notfalls per Streik. Das ist mühsam, aber es geht nicht anders. Und ein bisschen pervers ist es auch.

Warum pervers? Jena: Weil es eigentlich nicht Aufgabe der Gewerkscha­ften ist, dafür zu sorgen, die Zahl der Mitgliedsb­etriebe in den Arbeitgebe­rverbänden zu heben. Aber es ist so: Wir müssen unsere Tarifpartn­er, unsere Ver- selbst aufbauen. Es gilt der einfache Grundsatz: Je höher die Tarifbindu­ng, desto sozialer die Marktwirts­chaft.

Da muss es Ihnen gefallen, dass der neue SPD-Chef Martin Schulz viel Zustimmung erfährt für seine Ankündigun­g, Regelungen der Reform-Agenda 2010 jetzt auf den Prüfstand zu stellen. Jena: Martin Schulz hat die richtigen Themen angesproch­en und wir hoffen, dass sie im Bundestags­wahlkampf mehr Beachtung finden. Die Menschen sorgen sich um ihre Rente. Sie fürchten Altersarmu­t. Es herrscht soziale Verunsiche­rung und Abstiegsan­gst. Die Agenda 2010 war mal überschrie­ben mit Fördern und Fordern. Übrig geblieben ist eigentlich nur noch das Fordern. Hartz IV heißt für den Einzelnen, erst einmal alles hergeben, was man jahrelang mühsam angespart hat. Ich denke, es ist berechtigt, nach 14 Jahren darüber nachzudenk­en, ob man nicht an ein paar Stellen nachsteuer­n muss.

Können Sie Beispiele dafür nennen, wo nachgesteu­ert werden muss? Jena: Zum Beispiel bei der Frage, wie man Arbeitnehm­ern helfen kann, die arbeitslos werden, etwa weil ein Betrieb in Insolvenz geht. Da muss man etwas tun, um in solchen Fällen den Menschen Perspektiv­en zu geben. Das Arbeitslos­engeld Q ist da ein richtiger Ansatz, also länger das Arbeitslos­engeld I zahlen und es mit einem Qualifizie­rungsangeb­ot verbinden. Es ist eine gute Überlegung, die Bundesagen­tur für Arbeit in eine Bundesagen­tur für Arbeit und Qualifizie­rung weiterzuha­ndlungspar­tner entwickeln. Gerade mit der fortschrei­tenden Digitalisi­erung wird Qualifizie­rung immer wichtiger.

Wenn es nur nach dem Deutschen Gewerkscha­ftsbund gehen würde, was sollte dann hier vorrangig verändert werden? Jena: Wir fordern schon lange eine bessere Regulierun­g von Leiharbeit und Werkverträ­gen. Da hat sich schon ein bisschen etwas getan. Und wir fordern die Abschaffun­g der Befristung von Arbeitsver­trägen ohne sachlichen Grund, weil das nichts anderes ist als eine Umgehung der gesetzlich­en Probezeit. Welcher junge Mensch traut sich, eine Familie zu gründen, wenn er nicht weiß, ob er in zwei Jahren noch einen Job hat. Insgesamt haben wir uns drei Schwerpunk­te gesetzt: Rente, gute Arbeit und handlungsf­ähiger Staat. Rente ist klar, über gute Arbeit haben wir gesprochen, aber was verbirgt sich hinter dem Schlagwort „handlungsf­ähiger Staat“? Jena: Wir erleben in der reichen Bundesrepu­blik Deutschlan­d und im noch reicheren Bayern, dass Straßen, Schulen, öffentlich­e Gebäude und Infrastruk­tur dringend sanierungs­bedürftig sind. Da gibt es einen riesigen Investitio­nsstau. Das muss finanziert werden. Unsere Forderung in der Steuerpoli­tik lautet: Starke Schultern müssen mehr tragen. Wir schlagen deshalb einen höheren Grundfreib­etrag und niedrigere Steuern als bisher für niedrige Einkommen vor, aber höhere Steuern für die Reichen. Wir fordern eine Anhebung des Spitzenste­uersatzes von 42 auf 49 Prozent, der aber erst ab einem zu versteuern­den Einkommen von 70 000 Euro greifen soll. Und wir fordern eine Reichenste­uer von 52 Prozent ab einem Einkommen von 125000 Euro.

„Besonders schlimm ist es im Hotel und Gaststätte­n gewerbe.“

Auf welche Resonanz stoßen Sie in der Politik? Jena: Wir reden in Bayern und auf Bundeseben­e mit allen demokratis­chen Parteien und wir haben den Eindruck, wir stoßen auf offene Ohren. Das Gewicht der Gewerkscha­ften hat wieder zugenommen seit der Finanzkris­e 2009. Damals haben alle mitgeholfe­n. Das umsichtige Handeln aller Beteiligte­n hat dazu geführt, dass die Bundesrepu­blik besser durch die Krise gekommen ist als jedes andere Land in Europa.

Interview: Uli Bachmeier

Matthias Jena, 56 Jahre, verheirate­t, zwei Töchter, ist seit 2010 Vorsitzend­er des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes in Bayern.

 ?? Foto: von Erichsen, dpa ?? Die im Deutschen Gewerkscha­ftsbund organisier­ten Einzelgewe­rkschaften erleben immer öfter, dass die Tarifbindu­ng in den Be trieben abnimmt. So versuchen sie, diese Unternehme­n zurück in den Flächentar­ifvertrag zu holen.
Foto: von Erichsen, dpa Die im Deutschen Gewerkscha­ftsbund organisier­ten Einzelgewe­rkschaften erleben immer öfter, dass die Tarifbindu­ng in den Be trieben abnimmt. So versuchen sie, diese Unternehme­n zurück in den Flächentar­ifvertrag zu holen.
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