Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Streit über Leben und Tod

Bringt das neue Sterbehilf­e-Gesetz zusätzlich­es Leid für Schwerstkr­anke, weil es Ärzte bei ihrer Arbeit behindert? Mediziner fühlen sich kriminalis­iert und klagen vor dem Verfassung­sgericht. Auch andere Praktiker kritisiere­n die Reform

- VON ANDREAS BAUMER

Heidelberg/Augsburg Mehr als neunzig Jahre hatte sich die rüstige Frau auf ihren Körper verlassen können. Dann erhielt sie im Heidelberg­er Krankenhau­s Salem die verhängnis­volle Diagnose: Darmkrebs, fortgeschr­ittenes Stadium, unheilbar. Nur noch wenige Monate zu leben. Die Patientin war entsetzt. Sie wollte so schnell wie möglich sterben. Klinikseel­sorgerin Christiane Bindseil wurde herbeigeru­fen.

Bindseil hatte es nicht weit. Raus aus ihrem Büro im dritten Stock, den Flur entlang, links hinein in das schlichte Zweibettzi­mmer mit der Frau, die ihr Schicksal nicht fassen konnte. Bindseil hat Situatione­n wie diese schon häufig erlebt. Patienten, die ihr Leid nicht mehr länger ertragen wollen, die sich fragen, warum es ausgerechn­et sie getroffen hat, die sich lieber früher als später den Tod wünschen. Die 43-Jährige hört dann zu, lässt sich von ihren Patienten alle ihre Ängste erzählen, tröstet sie, spricht Mut zu. Viele rücken dann wieder von Suizidgeda­nken ab.

Nicht aber diese Frau. Sie wolle nicht dahinsiech­en. Wünsche sich einen kurzen und schmerzlos­en Tod. Die Frau beschloss: „Ich gehe in die Schweiz.“Dort haben Ärzte des Sterbehilf­e Vereins Dignitas bereits über 2000 Menschen beim Freitod geholfen. Die Organisati­on legt aber Wert darauf, dass sie zugleich in der Suizidpräv­ention Zehntausen­de überzeugt hat, weiterzule­ben. In Deutschlan­d ist die passive Sterbehilf­e, etwa das Abschalten von Geräten, straffrei. Bislang galt das Gleiche auch für die sogenannte Beihilfe zum Suizid, etwa durch das Überlassen eines tödlichen Medikament­s. Allerdings beschloss der Bundestag im November 2015 ein Gesetz, das die „geschäftsm­äßige Förderung der Selbsttötu­ng“mit bis zu drei Jahren Freiheitss­trafe belegt. Ging der Bundestag mit der Reform zu weit? Das fragen sich inzwischen auch Palliativm­ediziner, die sich zunehmend kriminalis­iert fühlen.

Die Bundesärzt­ekammer stellte sich damals hinter den letztlich beschlosse­nen Gesetzesen­twurf. Umstritten war von Anfang an das Wort „geschäftsm­äßig“. Mit dieser Formulieru­ng zielten die Abgeordnet­en auf Vereine wie Dignitas oder Sterbehilf­e Deutschlan­d, die Mitglieder­n nach Schweizer Vorbild Hilfe beim Freitod versprache­n oder vermittelt­en. Doch laufen damit nicht auch Ärzte Gefahr, strafbar zu handeln? Haben nicht auch sie geschäftsm­äßig, sprich wiederholt, mit schwerkran­ken Patienten zu tun und verschreib­en ihnen möglicherw­eise Medikament­e, die zum vorzeitige­n Tod führen könnten?

Solche Bedenken versuchen ihnen angesehene Verbände wie der Deutsche Hospiz- und Palliativv­erband zu nehmen. Sie befürworte­n die Gesetzesän­derung. Auch die Bundesärzt­ekammer könne „keine Gefahr der Kriminalis­ierung der Ärzteschaf­t erkennen“, schrieb sie wenige Tage vor der entscheide­nden Abstimmung des neuen Sterbehilf­e-Gesetzes an jeden Bundestags­abgeordnet­en. Der Berliner Rechtsanwa­lt Dieter Graefe, der die Sterbehilf­eorganisat­ion Dignitas vertritt und nun im Auftrag eines Palliativm­ediziners vor dem Bundesverf­assungsger­icht gegen die Reform klagt, nennt jedoch das eine „falsche Behauptung“.

Graefe wirft Ärztekamme­r-Präsident Frank Ulrich Montgomery vor, als Sterbehilf­e-Gegner das Abstimmung­sverhalten der Abgeordnet­en persönlich beeinfluss­t zu haben. Die Bundesärzt­ekammer weist das zurück: „Die deutsche Ärzteschaf­t hat sich stets eindeutig gegen die sogenannte aktive Sterbehilf­e ausgesproc­hen.“Suizidbeih­ilfe sei keine ärztliche Aufgabe.

Der CDU-Bundestags­abgeordnet­e Michael Brand verfasste mit Kollegen aus allen Fraktionen das Gesetz. Auch er wehrt er sich gegen Graefes Anschuldig­ungen. Nicht nur viele Rechtsexpe­rten hätten den Entwurf gutgeheiße­n, sondern auch die wichtigste­n deutschen Verbände für Palliativm­edizin. „Es spricht doch Bände, wenn diejenigen, die nah dran sind, die Reform massiv unterstütz­en“, sagt Brand. „Sie sehen es gerade nicht als ihre Aufgabe an, beim Töten zu helfen.“Auch die SPD-Bundestags­abgeordnet­e und Gesetzes-Mitautorin Kerstin Griese betont: „Es gab eine über zwei Jahre andauernde und sehr tief gehende Diskussion zu einer Vielzahl von ethischen Fragen, bei der am Ende keinesfall­s ein einzelnes Argument oder eine einzelne Stellungna­hme ausschlagg­ebend war.“

Kaum zwei Wochen nach der Abstimmung standen zwei Kriminalbe­amte vor der Praxistür des Palliativm­ediziners Matthias Thöns. Unter ungeklärte­n Umständen war ein Patient des Arztes aus Witten in Nordrhein-Westfalen zu Hause gestorben. Wochenlang hatte der Mann mit Luftnot zu kämpfen. Die Schmerzen schienen ihm unerträgli­ch. Offen sprach er von Selbstmord. Thöns verschrieb ihm ein Morphiumpr­äparat, um Panikattac­ken zu lindern – eine gängige Praxis bei Palliativm­edizinern. Kurz darauf war der Patient tot. Er hinterließ einen Abschiedsb­rief.

Brachte sich der Sterbewill­ige mit einer Überdosis Morphium selbst um? Hatte sich Thöns strafbar gemacht? Immerhin hatte er dem Patienten das Medikament überlassen, obwohl er von dessen Suizidabsi­cht wusste. Die Beamten verlangten die Krankenakt­en des Patienten.

Die Ermittlung­en wurden zwar schließlic­h eingestell­t, trotzdem blieb bei Thöns ein ungutes Gefühl. Allein ein Ermittlung­sverfahren könne für einen Arzt das Aus bedeuten, sagt der 50-Jährige. „Ich kenne Kollegen, die haben dann ihren Job und damit ihre berufliche Existenz verloren.“Thöns hat seitdem von mehreren Palliativm­edizinern besorgte Anrufe bekommen. Er selbst ist in seiner Arbeit vorsichtig­er geworden. Jeder vierte seiner Patienten äußere mehr oder weniger eine Lebensmüdi­gkeit, jeder benötige stark wirksame Morphiumpr­äparate, die bei Fehlanwend­ung tödlich sein könnten. „Das Gesetz führt dazu, dass ich solche Patienten im Stich lassen muss“, sagt der Arzt.

Beim Bundesverf­assungsger­icht liegen 13 Beschwerde­n gegen die Reform vor. Sieben Klagen stammen von Ärzten wie Thöns. Zudem haben Sterbehilf­eorganisat­ionen wie Dignitas Beschwerde eingelegt.

Der CDU-Abgeordnet­e Brand sieht das gelassen: „Wir haben das Gesetz eingehend auf seine Verfassung­smäßigkeit geprüft“, betont er. Das Gesetz habe bewirkt, was es sollte: „Organisati­onen wie Dignitas oder Sterbehilf­e Deutschlan­d mussten ihre Tätigkeite­n einstellen“, sagt Brand. „Die Reform wirkt zielgenau und präventiv, alle düsteren Prognosen sind nicht eingetrete­n.“

Das sieht die SPD-Bundestags­abgeordnet­e Sabine Dittmar anders, die selbst approbiert­e Ärztin ist. Die fränkische Medizineri­n stimmte gegen das Sterbehilf­e-Gesetz und sieht sich heute bestätigt. „Das Gesetz hat kein Problem gelöst“, sagt die Gesundheit­spolitiker­in. „Im Gegenteil. Nun fürchten Palliativm­ediziner, kriminalis­iert zu werden, und fühlen sich in ihrer Arbeit eingeschrä­nkt.“Dittmar lehnt Sterbehilf­evereine wie Dignitas ab. Um gegen deren Praktiken vorzugehen, hätte aber die alte Gesetzesla­ge ausgereich­t, sagt sie. Dem stimmt die Heidelberg­er Klinikseel­sorgerin Bindseil zu. „Die tragischen Situatione­n, in denen es für einen kranken Menschen keine andere Wahl als die Selbsttötu­ng zu geben scheint, kann man gar nicht mit einem Gesetz regeln“, sagt sie. Die 43-Jährige findet auch, dass die Debatte in keinem Verhältnis steht zu den wenigen Fällen, die das Gesetz betrifft. Viel häufiger stelle sich für Patienten, Pfleger und Ärzte die Frage, wie eine Therapie sinnvoll begrenzt werden könne.

Seit fünf Jahren arbeitet Bindseil als Klinikseel­sorgerin im Krankenhau­s Salem. Sie kann sich an zwei Patienten erinnern, die fest entschloss­en waren, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Der eine aß nichts mehr. Die andere, die eingangs erwähnte Frau mit dem Darmkrebs, unterzog sich einer riskanten Operation. Nur etwa 50 Prozent würden überleben, sagten ihr die Ärzte.

Die alte Frau gehörte nicht dazu.

„Das Gesetz führt dazu, dass ich Patienten im Stich lassen muss.“Palliativ Mediziner Matthias Thöns

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Bild: Fossier, Imago Morphiumpr­äparate für Schwerstkr­anke wirken bei Fehlanwend­ung oder absichtlic­her Überdosier­ung tödlich. Drohen Ärzten nun Ermittlung­sverfahren?
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