Mittelschwaebische Nachrichten
„Ohne Kreuz verleugnen wir die Wirklichkeit“
Der evangelische Regionalbischof Michael Grabow hält es mit Martin Luther: Dass Gott gerade im Scheitern zu finden ist
Herr Regionalbischof, können Sie verstehen, dass manchem Zeitgenossen der Anblick des Kreuzes als Inbegriff eines blutrünstigen Gottes zuwider ist? Michael Grabow: Ja, der Glaube an einen blutrünstigen Gott wäre mir auch zuwider. Aber Gott ist kein blutrünstiger Gott. Er braucht keine Menschenopfer. Gott opfert sich selbst. Er geht selbst ans Kreuz. Gott nimmt selbst das Leiden und Sterben eines Menschen auf sich. Jesus ist der gekreuzigte Gott, nicht ein blutrünstiger Gott. Blutrünstig und brutal sind die Menschen bei diesem Geschehen. Ich kenne kein anderes Symbol, das die Welt in all ihren Facetten so ernst nimmt, wie es das Kreuz tut. Weil es die Schattenseiten des Lebens eben nicht verleugnet. Für mich ist das Kreuz ein Mahnmal gegen das Leid, das Menschen sich gegenseitig zufügen, gegen Folter und Gewalt.
Was soll im Aufblick auf das Kreuz tröstlich sein? Grabow: Wenn Menschen sehen, dass Leiden und Sterben ernst genommen wird, liegt darin Trost. Ich kenne viele Menschen, die aus dem Kreuz Stärkung empfangen, gerade in einer schwierigen Lebenssituation. Viele junge Menschen tragen ein Kreuz um den Hals, und ich vermute, dass dies nicht nur als Schmuck empfunden wird, sondern dass sie damit etwas verbinden, das sie verbal nicht ausdrücken können: Dass ihnen das Leben mehr ist als der äußere Schein, die Alltäglichkeit. Und dass Menschen spüren, wie verletzlich das Leben ist, dass es Schutz braucht und wir alle irgendwann trostbedürftig sind.
Martin Luther sagt: „Gott kann nur im Leiden und Kreuz gefunden werden.“Lässt sich diese steile These heute noch vermitteln? Grabow: Diese These war schon zu Zeiten des Neuen Testaments schwer vermittelbar. Der Apostel Paulus schreibt, dass vielen das Kreuz ein Ärgernis, eine Torheit ist. Luther konzentriert sich genau darauf, es war seine tiefste Lebensund Glaubenserfahrung. Luthers Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“hat die Menschen damals umgetrieben. Der gekaufte Ablass gab ihnen nicht wirklich Seelenfrieden. Die Angst vor der Hölle blieb. Luther sagt: Wenn ihr einen wirklich gnädigen Gott sucht, der euch vergibt, dann schaut auf das Kreuz. Nun mögen die existenziellen Fragen der Menschen heute an- ders lauten, doch hochaktuell ist, dass Gott gerade im Schwachsein oder im Scheitern zu finden ist und in dem, wo wir uns defizitär empfinden.
Könnten die Theologen es denn nicht beim lieben Gott belassen, bei seiner Barmherzigkeit, seiner Güte, seiner Liebe? Grabow: Wenn wir nur Gottes Liebe, Barmherzigkeit, Gnade benennen, dann würden wir die Wirklichkeit unserer Welt verleugnen. Angesichts der Kreuze dieser Welt, die uns umgeben, wäre das sogar zynisch, wenn wir es dabei belassen würden. Denn all die Menschen, denen es gerade nicht gut geht, die sich nach Liebe sehnen, die sie gerade nicht erfahren, werden sich bei dieser Aussage nicht verstanden fühlen. Deswegen finde ich so wichtig, was Luther sagt: „Der Theologe, der Gottes unverborgene Herrlichkeit sucht, nennt das Übel gut und Gutes übel. Der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge beim rechten Namen.“Er hat damit gemeint, dass eine Verharmlosung der Wirklichkeit falsch wäre und dies aber passiert, wenn man nur von der Liebe Gottes spricht. Gottes Liebe ist Treue Gottes zum Menschen – gerade in seiner Freiheit.
Wie kann man heute noch von Kreuzesnachfolge sprechen? Grabow: Es geht darum, wahrhaftig zu sein. Die Liebe zu leben, die Gott uns aufgetragen hat, was nur möglich ist, weil Gott uns zuerst geliebt hat. Wahrhaftigkeit kann auch heißen, dass ich manchmal den Kopf hinhalten muss. Daran scheitere ich immer wieder. Doch auch dann lässt Gott mich nicht im Stich.
Der Anteil konfessionsloser und andersgläubiger Bürger steigt stetig. Wie lange noch hängen Kreuze in unseren Gerichtssälen und Schulen? Grabow: Solange der Staat sich noch seiner christlichen Wurzeln bewusst ist und ernst nimmt, was er selbst in seine Verfassung geschrieben hat. Artikel 131 der bayerischen Verfassung sagt ja, oberstes Bildungsziel ist die Ehrfurcht vor Gott. Das gilt in Übertragung auch für unser Recht. Mit dem Gottesbezug in der Verfassung ist nicht dezidiert der christliche Gott gemeint, es ist ein offenerer Gottesbegriff. Aber nach Artikel 7 ist von der kulturellen und geschichtlichen Prägung Bayerns auszugehen und von einer positiven Religionsfreiheit. Solange sich die Mehrheitsbevölkerung am Kreuz orientiert, indem sie Mitglied unserer Kirchen ist, so lange ist es gut, dass Kreuze in Gerichtssälen und Schulen hängen.
Zu Ihrer Amtskleidung gehört das Brustkreuz. Macht dieses Zeichen mit Ihnen selbst etwas? Grabow: Es erinnert mich an meine Aufgabe, die Frohe Botschaft zu verkündigen. Es ist kein Statussymbol. Eher ein Erinnerungszeichen, wofür ich beauftragt worden bin. Jeder Pfarrer kann ein Kreuz tragen. Bei der Ordination überreiche ich immer ein Ansteckkreuz.
Wenn das Kreuz den Evangelischen so wichtig ist, warum bekreuzigen sie sich eigentlich nicht? Grabow: Wir tun es zunehmend mehr. Luther hat in seiner Einleitung zum Morgen- und Abendsegen geschrieben: „Wenn du magst, magst du dich mit dem Zeichen des Kreuzes bekreuzigen.“
Empfinden Sie sich aufgrund Ihres christlichen Bekenntnisses als „Kreuzritter“, wie uns radikale Muslime unterstellen? Grabow: Wahrhaftig nicht. Was die Kreuzritter vor 800 Jahren im Heiligen Land teilweise angerichtet haben, waren schreckliche Dinge. Davon haben wir uns deutlich distanziert. Wir sind keine Kreuzritter. Würde mich jemand persönlich ansprechen, würde ich zurückfragen: Wieso kommst du darauf? Wovor hast du Angst, wenn du auf Christen schaust? Vielleicht kämen wir in ein ganz spannendes Gespräch.
Interview: Alois Knoller