Mittelschwaebische Nachrichten
Schmarotzer
nation waren, bevor sie sehr spät zur Nation wurden, haben demnach in dieser Frage nie zur Ruhe gefunden. Die großen Geister ihrer Geschichte wollten immer schon Weltgeister sein, mitunter sehr stolz auf ihre Kultur, die wie in der Antike die der Griechen allen anderen vorangehen könne. Als Gegenbewegung aber waren Rückzug und Selbstbesinnung ebenso radikal, geistig provinziell, nationalistisch. Auschwitz war der Bruch des Pendels. Und doch ist dem Deutschen die Doppelgesichtigkeit bis ins Kleine geblieben. Borchmeyer zitiert Erich Kahler, einen Gefährten Thomas Manns: „Sie sind eigenbrötlerisch und massenselig, untertänig und hochfahrend, friedfertig und raufsüchtig, pedantisch und schwärmerisch, treuherzig und treubrüchig, leichtgläubig und misstrauisch und alles bis aufs Äußerste.“Seit der Wiedervereinigung kann das Pendel mit erstarktem Selbstbewusstsein wieder weiter ausschwingen.
Das brachte auch alte Bahnen neu Brechendes wie Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“hervor. Das ja auch keine positive Bestimmung des Deutschseins lieferte, sondern nur eine Abgrenzungsdebatte anstieß. Sie wirkt bis heute fort. Nicht nur bei den Fahnenschwenkern, sondern auch in der Gegenrichtung. Aktuell etwa ist vom Pater Notker Wolf das Buch „Schluss mit der Angst – Deutschland schafft sich nicht ab“erschienen, ein Mutmacher zur Weltoffenheit. Auch Dieter Borchmeyer will mit seinem Buch ein Zeichen gegen den Nationalismus setzen, kulturhistorisch, indem er zeigt, dass Deutschsein eine Frage der Kulturnation ist, immer im Bewusstsein ihrer Geschichte und damit ihres ge- fährlichen Potenzials. Die Unsicherheit gehört zu unserem Wesen. Gerade als die starke Wirtschaftsmacht in der Mitte Europas.
In einem viel kleineren aktuellen Buch mit demselben Titel – „Was ist deutsch?“– zieht der Wuppertaler Philosoph Peter Trawny diesen Schluss noch viel weiter. Trawny war lange Herausgeber der Werke von Martin Heidegger, einem der wirkmächtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der aber auch unter den Nazis Karriere gemacht und sich zu Hitler bekannt hat. Als in den vergangenen Jahren durch Veröffentlichung von dessen privaten Notizen in den „Schwarzen Heften“herauskam, wie stark antisemitisch und faschistisch Heideggers Denken war, legte Trawny seine Tätigkeit nieder und schreibt nun: „Ich verstehe als Deutscher unmittelbar, wie Auschwitz möglich war. Das hängt zusammen mit dem, was es heißt, ein Deutscher zu sein.“
Was er mit seinem eigentlichen geistigen Vater Theodor W. Adorno sagt: Angesichts unserer Geschichte, die durch keinen Vergleich zu relativieren ist, haben wir nur die Möglichkeit einer deutschen „Nicht-Identität“. Uns eint grundlegend zu allem anderen etwas Negatives. Aber gerade das befähigt uns zu Besonderem: „Die deutsche Identität ist nach Adorno durch einen nie zu heilenden Riss gezeichnet. Schließlich gehört zu einer solchen Nicht-Identität, dass ihre Instabilität sich als Offenheit für das Menschliche schlechthin erweist.“Der für immer wankende Boden des Deutschen, der ihm auch bei Trawny ein Ineinander aus „Großartigem“und „Monströsem“beschert, bietet also die Chance, sich bewusst zu werden, wie wankend der Boden des Menschseins generell ist. Etwas, worauf sich die Deutschen positiv stützen können, sieht Trawny aber auch: einen Patriotismus der Verfassung, das Fundament menschlicher Werte also, die auf dem wankenden Boden Halt geben können.
Der Philosoph resümiert: „Die Frage, was deutsch sei, bleibt relevant, nicht nur weil es sich Populisten mit ihr allzu leicht machen und den Unzufriedenen und auch Zufriedenen mit Staffagen ausstatten, damit diese ihr vermeintliches Deutschsein Flüchtlingen und anderen Leidtragenden entgegenhalten können. Sie bleibt auch deshalb wichtig, weil das Leben einer Gesellschaft von den Narrativen ihrer Mitglieder mindestens mitbestimmt wird.“Das heißt: Es gilt für uns als Deutsche, mit unserer Geschichte, für eine Erzählung von Leben einzustehen, die auf moralische Werte baut – in einer Welt, die nur noch monetäre Werte zu berücksichtigen droht. Deutschsein als Verpflichtung.
Darum dürfen wir die Debatte über das Deutschsein auch nicht Leuten wie Höcke überlassen, sie nicht mit dem Versuch eines fortgesetzten Kanons des Verbotenen einfach beenden – wir müssen sie führen. Nur das kann nach Historiker Borchmeyer und Philosoph Trawny die Antwort auf die ewige Doppelgesichtigkeit des Deutschen sein.
Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Rowohlt, 1056 S., 39,95 ¤
Peter Trawny: Was ist deutsch? Matthes & Seitz, 107 S., 10 ¤
Es gibt Wörter, die möchte man nicht neben sich sitzen haben. Blutegel ist so eines, Eiterbeule, Nervensäge und Nierenstein, ebenso Dumpfbacke und Giftmischer. Zu diesen Gesellen, die höchst selten den Weg in ein Gedicht, einen Schlagertext oder eine Freundschaftsanzeige finden, gehört naturgemäß auch der Schmarotzer. Schlonzt schön nach hinten raus, dem Geräusch ähnlich, das beim Spucken auf die Straße entsteht. Was ist ein Schmarotzer? Die Kreuzworträtselhilfe ist eine ganz brauchbare erste Orientierung. Wird nach dem Schmarotzer mit 5 Buchstaben gefragt: Milbe. 7 Buchstaben: Parasit. 8 Buchstaben – großes Gedränge: Mitesser, Nassauer, Sandfloh, Kurtisan, Trichine. 9 Buchstaben: Faulenzer, Schnorrer. Bis 12 geht’s hinauf mit den Schmarotzern in Gestalt von Feuerschwamm und Schuppenwurz.
Von Schweizer Banken war in diesem Zusammenhang bislang eher wenig die Rede. Doch diese Woche, im Prozess des Ulmer Drogeriekönigs Erwin Müller, schaffte der Schmarotzer den Aufstieg aus der üblichen Vorurteilsetage Hartz IV nach ganz oben in die Welt des großen Geldes und der Millionäre. Müller fordert von seiner Schweizer Bank 45 Millionen Euro Schadenersatz, weil die ihm – Achtung! – einen „SchmarotzerFonds“angedreht habe. Das Renditeversprechen der Geldanlage nämlich sei, wie Milliardär Müller seine Anwälte erklären ließ, ein „Schmarotzerprodukt“zum Nachteil des deutschen Staates. Ach!
In der Natur ist das schmarotzerische Treiben von Parasiten eine unausrottbare Strategie. Der Efeu schmarotzt, der Kuckuck tut’s, die Laus und der Floh sowieso. Große Anpassungsleistungen. Wahrscheinlich verhält es sich im Zusammenleben der Menschen ähnlich. Der eine gibt, der andere nimmt. Der eine saugt aus, der andere wird gemolken. Das führt nicht nur im Bankwesen zu Verwerfungen. Im Wörterbuch der Brüder Grimm ist der Schmarotzer in vielen Stellen zitiert, meist in zweifelhafter Gesellschaft von „Suppenfressern“, „Tellerleckern“und „Weinund Biergurglern“. Bei Nietzsche steht der Schmarotzer noch unter dem Speichellecker. „... und das widrigste Tier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das wollte nicht lieben und doch von Liebe leben.“Die Wahrscheinlichkeit, dass uns so jemand einmal gegenüber sitzt, besteht. Und sei es in Gestalt eines Spiegelbilds.
Ineinander von Großartigem und Monströsem