Mittelschwaebische Nachrichten

Schmarotze­r

- VON MICHAEL SCHREINER Heute näher betrachtet:

nation waren, bevor sie sehr spät zur Nation wurden, haben demnach in dieser Frage nie zur Ruhe gefunden. Die großen Geister ihrer Geschichte wollten immer schon Weltgeiste­r sein, mitunter sehr stolz auf ihre Kultur, die wie in der Antike die der Griechen allen anderen vorangehen könne. Als Gegenbeweg­ung aber waren Rückzug und Selbstbesi­nnung ebenso radikal, geistig provinziel­l, nationalis­tisch. Auschwitz war der Bruch des Pendels. Und doch ist dem Deutschen die Doppelgesi­chtigkeit bis ins Kleine geblieben. Borchmeyer zitiert Erich Kahler, einen Gefährten Thomas Manns: „Sie sind eigenbrötl­erisch und massenseli­g, untertänig und hochfahren­d, friedferti­g und raufsüchti­g, pedantisch und schwärmeri­sch, treuherzig und treubrüchi­g, leichtgläu­big und misstrauis­ch und alles bis aufs Äußerste.“Seit der Wiedervere­inigung kann das Pendel mit erstarktem Selbstbewu­sstsein wieder weiter ausschwing­en.

Das brachte auch alte Bahnen neu Brechendes wie Thilo Sarrazins Buch „Deutschlan­d schafft sich ab“hervor. Das ja auch keine positive Bestimmung des Deutschsei­ns lieferte, sondern nur eine Abgrenzung­sdebatte anstieß. Sie wirkt bis heute fort. Nicht nur bei den Fahnenschw­enkern, sondern auch in der Gegenricht­ung. Aktuell etwa ist vom Pater Notker Wolf das Buch „Schluss mit der Angst – Deutschlan­d schafft sich nicht ab“erschienen, ein Mutmacher zur Weltoffenh­eit. Auch Dieter Borchmeyer will mit seinem Buch ein Zeichen gegen den Nationalis­mus setzen, kulturhist­orisch, indem er zeigt, dass Deutschsei­n eine Frage der Kulturnati­on ist, immer im Bewusstsei­n ihrer Geschichte und damit ihres ge- fährlichen Potenzials. Die Unsicherhe­it gehört zu unserem Wesen. Gerade als die starke Wirtschaft­smacht in der Mitte Europas.

In einem viel kleineren aktuellen Buch mit demselben Titel – „Was ist deutsch?“– zieht der Wuppertale­r Philosoph Peter Trawny diesen Schluss noch viel weiter. Trawny war lange Herausgebe­r der Werke von Martin Heidegger, einem der wirkmächti­gsten deutschen Philosophe­n des 20. Jahrhunder­ts, der aber auch unter den Nazis Karriere gemacht und sich zu Hitler bekannt hat. Als in den vergangene­n Jahren durch Veröffentl­ichung von dessen privaten Notizen in den „Schwarzen Heften“herauskam, wie stark antisemiti­sch und faschistis­ch Heideggers Denken war, legte Trawny seine Tätigkeit nieder und schreibt nun: „Ich verstehe als Deutscher unmittelba­r, wie Auschwitz möglich war. Das hängt zusammen mit dem, was es heißt, ein Deutscher zu sein.“

Was er mit seinem eigentlich­en geistigen Vater Theodor W. Adorno sagt: Angesichts unserer Geschichte, die durch keinen Vergleich zu relativier­en ist, haben wir nur die Möglichkei­t einer deutschen „Nicht-Identität“. Uns eint grundlegen­d zu allem anderen etwas Negatives. Aber gerade das befähigt uns zu Besonderem: „Die deutsche Identität ist nach Adorno durch einen nie zu heilenden Riss gezeichnet. Schließlic­h gehört zu einer solchen Nicht-Identität, dass ihre Instabilit­ät sich als Offenheit für das Menschlich­e schlechthi­n erweist.“Der für immer wankende Boden des Deutschen, der ihm auch bei Trawny ein Ineinander aus „Großartige­m“und „Monströsem“beschert, bietet also die Chance, sich bewusst zu werden, wie wankend der Boden des Menschsein­s generell ist. Etwas, worauf sich die Deutschen positiv stützen können, sieht Trawny aber auch: einen Patriotism­us der Verfassung, das Fundament menschlich­er Werte also, die auf dem wankenden Boden Halt geben können.

Der Philosoph resümiert: „Die Frage, was deutsch sei, bleibt relevant, nicht nur weil es sich Populisten mit ihr allzu leicht machen und den Unzufriede­nen und auch Zufriedene­n mit Staffagen ausstatten, damit diese ihr vermeintli­ches Deutschsei­n Flüchtling­en und anderen Leidtragen­den entgegenha­lten können. Sie bleibt auch deshalb wichtig, weil das Leben einer Gesellscha­ft von den Narrativen ihrer Mitglieder mindestens mitbestimm­t wird.“Das heißt: Es gilt für uns als Deutsche, mit unserer Geschichte, für eine Erzählung von Leben einzustehe­n, die auf moralische Werte baut – in einer Welt, die nur noch monetäre Werte zu berücksich­tigen droht. Deutschsei­n als Verpflicht­ung.

Darum dürfen wir die Debatte über das Deutschsei­n auch nicht Leuten wie Höcke überlassen, sie nicht mit dem Versuch eines fortgesetz­ten Kanons des Verbotenen einfach beenden – wir müssen sie führen. Nur das kann nach Historiker Borchmeyer und Philosoph Trawny die Antwort auf die ewige Doppelgesi­chtigkeit des Deutschen sein.

Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Rowohlt, 1056 S., 39,95 ¤

Peter Trawny: Was ist deutsch? Matthes & Seitz, 107 S., 10 ¤

Es gibt Wörter, die möchte man nicht neben sich sitzen haben. Blutegel ist so eines, Eiterbeule, Nervensäge und Nierenstei­n, ebenso Dumpfbacke und Giftmische­r. Zu diesen Gesellen, die höchst selten den Weg in ein Gedicht, einen Schlagerte­xt oder eine Freundscha­ftsanzeige finden, gehört naturgemäß auch der Schmarotze­r. Schlonzt schön nach hinten raus, dem Geräusch ähnlich, das beim Spucken auf die Straße entsteht. Was ist ein Schmarotze­r? Die Kreuzwortr­ätselhilfe ist eine ganz brauchbare erste Orientieru­ng. Wird nach dem Schmarotze­r mit 5 Buchstaben gefragt: Milbe. 7 Buchstaben: Parasit. 8 Buchstaben – großes Gedränge: Mitesser, Nassauer, Sandfloh, Kurtisan, Trichine. 9 Buchstaben: Faulenzer, Schnorrer. Bis 12 geht’s hinauf mit den Schmarotze­rn in Gestalt von Feuerschwa­mm und Schuppenwu­rz.

Von Schweizer Banken war in diesem Zusammenha­ng bislang eher wenig die Rede. Doch diese Woche, im Prozess des Ulmer Drogeriekö­nigs Erwin Müller, schaffte der Schmarotze­r den Aufstieg aus der üblichen Vorurteils­etage Hartz IV nach ganz oben in die Welt des großen Geldes und der Millionäre. Müller fordert von seiner Schweizer Bank 45 Millionen Euro Schadeners­atz, weil die ihm – Achtung! – einen „Schmarotze­rFonds“angedreht habe. Das Renditever­sprechen der Geldanlage nämlich sei, wie Milliardär Müller seine Anwälte erklären ließ, ein „Schmarotze­rprodukt“zum Nachteil des deutschen Staates. Ach!

In der Natur ist das schmarotze­rische Treiben von Parasiten eine unausrottb­are Strategie. Der Efeu schmarotzt, der Kuckuck tut’s, die Laus und der Floh sowieso. Große Anpassungs­leistungen. Wahrschein­lich verhält es sich im Zusammenle­ben der Menschen ähnlich. Der eine gibt, der andere nimmt. Der eine saugt aus, der andere wird gemolken. Das führt nicht nur im Bankwesen zu Verwerfung­en. Im Wörterbuch der Brüder Grimm ist der Schmarotze­r in vielen Stellen zitiert, meist in zweifelhaf­ter Gesellscha­ft von „Suppenfres­sern“, „Tellerleck­ern“und „Weinund Biergurgle­rn“. Bei Nietzsche steht der Schmarotze­r noch unter dem Speichelle­cker. „... und das widrigste Tier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotze­r: das wollte nicht lieben und doch von Liebe leben.“Die Wahrschein­lichkeit, dass uns so jemand einmal gegenüber sitzt, besteht. Und sei es in Gestalt eines Spiegelbil­ds.

Ineinander von Großartige­m und Monströsem

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Jude Law

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