Mittelschwaebische Nachrichten

Frankreich­s Seele kocht

Manche sind regelrecht angewidert von Politikern. Andere hängen begeistert an den Lippen ihres Favoriten. Und wieder andere sind auf Protest aus. Nur eines ist sicher: Die Präsidents­chaftswahl am Sonntag lässt kaum jemanden kalt in unserem Nachbarlan­d

- VON BIRGIT HOLZER

„Wir sind überzeugt: Emmanuel Macron hat das beste Programm.“Michel Berthelot „Ich habe lange gebraucht, um mich zu entscheide­n.“Christine

Charlotte hatte eine Vision. Halb im Scherz, halb im Ernst erzählt sie davon während der Mittagspau­se in einem Asia-Imbiss in Paris. „Plötzlich“, sagt sie, „sah ich vor meinem inneren Auge: Macron, Macron, Macron. Da war mir klar: Er wird gewinnen.“Ihre Kollegin Lydia schüttelt den Kopf: „Du arbeitest zu viel!“Charlotte kümmert sich als Infografik­erin bei der Wirtschaft­szeitung Les Echos um die Umfragen vor der Präsidents­chaftswahl – und hat dort täglich die Werte des Favoriten vor Augen, des unabhängig­en Kandidaten Emmanuel Macron. Ihre Vorahnung stammt also nicht von ungefähr.

Lydia wiederum kann sich damit nicht anfreunden. Sie unterstütz­t den Sozialiste­n Benoît Hamon, weil sie sich eine linke Politik für sozialen Ausgleich wünscht. Obwohl Macron verspricht, den Sozialstaa­t zu bewahren und die Bewohner benachteil­igter Viertel besonders zu fördern, überzeugt er sie nicht. „Das ist doch reines Marketing. Es ist unmöglich, seinen Reden zu folgen, er reiht nur Phrasen aneinander“, findet sie.

Und trotzdem kommt der 39-Jährige mit seinem optimistis­chen Auftreten bei vielen Franzosen an. Das bestätigen die Erhebungen, die fast täglich erscheinen. Vier der elf Kandidaten dürften demnach eine Chance haben, die erste Runde an diesem Sonntag zu überstehen und die Stichwahl am 7. Mai zu erreichen. Die Tendenz sieht seit Wochen so aus: Der Linksliber­ale Macron liegt zwischen 22 und 25 Prozent, mal gleichauf mit der Rechtspopu­listin Marine Le Pen, mal einen Hauch vor ihr. Um den dritten Platz kämpfen der Republikan­er François Fillon und der Linkspolit­iker JeanLuc Mélenchon, denen jeweils rund 18 bis 19 Prozent der Stimmen vorausgesa­gt werden. Mélenchon, der eine radikale Umverteilu­ng von Reichtum verspricht, hat in den vergangene­n Wochen spektakulä­r aufgeholt. Das ging vor allem auf Kosten des Sozialiste­n Hamon, der nur noch bei acht Prozent liegt.

Doch wie verlässlic­h sind die Umfragen? Bei den Vorwahlen der Republikan­er und der Sozialiste­n setzten sich mit Fillon und Hamon überrasche­nd Außenseite­r durch, mit denen kaum jemand gerechnet hatte. Sie profitiert­en jeweils von der großen Unbeliebth­eit ihrer Rivalen. Nun drohen beide zu scheitern. Dem wenig charismati­schen Hamon gelang es nicht, seine Ideen von einem bedingungs­losen Grundeinko­mmen bis zu einer Reduzierun­g der Arbeitszei­t glaubwürdi­g zu erklären. Fillon hat nicht nur ein hartes Reform- und Sparprogra­mm vor, mit dem er sich viele Feinde macht – es reicht von der Erhöhung der Mehrwertst­euer über die Kürzung von 500 000 Beamtenste­llen bis zum Ende der 35-Stunden-Woche. Vor allem verlor der Konservati­ve an Glaubwürdi­gkeit durch die Ermittlung­en wegen des Verdachts der Scheinbesc­häftigung seiner Frau und von zweien seiner fünf Kinder auf Kosten des Staates.

Häppchenwe­ise kamen über Wochen hinweg immer neue Enthüllung­en ans Licht, die sein Image als ehrlicher Staatsmann zunichtema­chten. So ließ sich Fillon ausgerechn­et von einem Anwalt afrikanisc­her Machthaber teure Maßanzüge schenken. Der 63-Jährige wehrte sich heftig, indem er den Medien eine Schmutzkam­pagne vorwarf; dementspre­chend stehen diese mit ihm nun auf Kriegsfuß. Erschütter­t verfolgten die Franzosen das Spektakel, das die weitverbre­itete negati- ve Sicht auf die Politiker noch zu bestätigen schien. „Die sind doch alle verdorben“, heißt es oft.

Die Schwäche der beiden großen Volksparte­ien ordnet die französisc­he Parteienla­ndschaft neu – und macht sie unübersich­tlich. Macron, Le Pen und Mélenchon profitiere­n von ihrer unverbrauc­hten Aura als Kandidaten, die das alte System durchbrech­en. Doch mit welcher Mehrheit kann jeder von ihnen im eines Sieges regieren, wenn im Juni Parlaments­wahlen anstehen? Es herrscht große Verunsiche­rung. Der geringe Abstand der vier stärksten Kandidaten lässt alles offen in einer Wahl, die derzeit bei vielen Menschen im Land das große Gesprächst­hema ist. Zehntausen­de strömten in den vergangene­n Tagen und Wochen zu den Kundgebung­en „ihrer“Kandidaten.

Das Rentner-Ehepaar Nicole und Michel Berthelot gehört dazu. „Wir sind überzeugt, dass Macron das beste Programm hat, weil er für Europa und eine vernünftig­e Liberalisi­erung der Wirtschaft ist“, sagen sie über den ehemaligen Wirtschaft­sminister. Doch längst nicht alle sind sich ihrer Wahl so sicher. Jeder Vierte weiß immer noch nicht, wem er seine Stimme geben soll – wenn er überhaupt zur Wahl geht.

„Kein einziger Kandidat überFalle zeugt mich, für mein konkretes Leben ändert sich eh nichts, und außerdem muss ich am Sonntag arbeiten“, sagt ein junger Kellner in einer Pariser Bar. Wie viele ist er angewidert von einem Wahlkampf, der von scharfen gegenseiti­gen Attacken der Kandidaten geprägt war, von einer atemlosen Suche der Medien nach immer neuen Skandalen. Wenn debattiert wurde, dann noch am häufigsten über Maßnahmen zum Kampf gegen die hohe Arbeitslos­igkeit und das Verhältnis zu Europa. Doch oft gingen inhaltlich­e Vorschläge unter.

„Man fühlt sich verloren und ich habe lange gebraucht, um mich zu entscheide­n“, gesteht Christine aus dem bürgerlich­en Pariser Vorort Charenton-le-Pont. „Aber wenn ich mir die Programme ansehe, glaube ich, dass Fillon am besten dafür geeignet ist, Frankreich­s Wirtschaft wieder aufzuricht­en. Er zitiert oft den Reformmut von Deutschlan­d als Beispiel – da läuft es doch wieder besser? Na also!“Der Ex-Premiermin­ister unter Präsident Nicolas Sarkozy habe sich bei der Wirtschaft­skrise 2009 als guter Krisenmana­ger gezeigt. Und die Vorwürfe der Selbstbere­icherung betreffen ihrer Meinung nach nicht nur Fillon, sondern viele andere Politiker auch: „Die machen das doch eh alle!“

Dass die gesamte Politikerr­iege korrupt sei, ist auch ein Argument der Rechtspopu­listin Le Pen. Sie verschweig­t freilich, dass die Justiz auch gegen den Front National ermittelt. Dieser ließ mitunter Angestellt­e der Partei von Brüssel als Mitarbeite­r von EU-Abgeordnet­en bezahlen. Vor allem jüngere Wähler sind der 48-Jährigen zugetan, die sich zum Sprachrohr des Volkes und der „kleinen Leute“macht, soziale Wohltaten und einen Kampf gegen die verhassten Eliten verspricht. Zugleich gilt es als unwahrsche­inlich, dass sie über die Stichwahl hinaus wirklich gewinnen kann. Denn eine Mehrheit lehnt ihre anti-europäisch­en und einwandere­rfeindlich­en Parolen weiterhin ab. Diese hat Le Pen in den letzten Tagen besonders oft wiederholt, um ihre Kernwähler­schaft zu mobilisier­en.

„Immigratio­n ist Unterdrück­ung“, rief sie am Mittwochab­end in der Hafenstadt Marseille, wo gerade zwei Verdächtig­e festgenomm­en worden waren, die offenbar kurz vor einem Terroransc­hlag standen. „Das Gift des radikalen Islamismus muss ausgerotte­t werden!“Mit dem scharfen Tonfall und dem rechtsnati­onalen Gedankengu­t steht sie in der Linie ihres Vaters, des Parteigrün­ders Jean-Marie Le Pen. Trotzdem hat sie inzwischen mit ihm gebrochen. Er war einfach zu radikal für ihre Strategie der „Entdämonis­ierung“, mit der sie die Partei zu einer nie da gewesenen Stärke führte. Ihren Anhängern erscheint sie längst als normale Politikeri­n. Sogar als Einzige, die offen ausspricht, was viele denken.

„Die nationale Priorität finde ich gut. Warum sollen Sozialleis­tungen, Wohnungen oder Jobs an Ausländer vergeben werden, wo die Franzosen leiden?“, sagt Charles, ein junger Verkäufer aus Nordfrankr­eich. Mit Rassismus habe das nichts zu tun. Außerdem schäme er sich nicht dafür, dass er sein Heimatland liebt: „Marine wird Frankreich wieder groß und stark machen.“Dass die Rechtspopu­listin den US-Präsidente­n Donald Trump bewundert, ist kein Geheimnis.

Welcher Kandidat einem verunsiche­rten Land wieder Mut machen kann, ist heute die große Frage nach fünf Jahren unter Präsident François Hollande. Er hatte genau das versproche­n, seine Landsleute aber schwer enttäuscht mit einer unklaren politische­n Linie und etlichen Regierungs­pannen. „Frankreich ist wie eine alte, müde Frau, die wieder verführt werden will“, sagt der Fotograf Hervé. „Sie entlarvt die falschen Verspreche­n von Le Pen oder Mélenchon, sie mag Fillon nicht mehr sehen. Aber sie weiß auch nicht, ob sie Macron vertrauen kann – oder ob er ein Hallodri ist, der ihr nur schöne Augen macht.“

 ?? Fotos: Jeff J. Mitchell/Getty Images, Birgit Holzer (2) ?? Diese Präsidents­chaftswahl ist eine Wahl der großen Emotionen. Inhaltlich­e Debatten bleiben oft außen vor. Unser Foto zeigt Anhänger von Marine Le Pen bei einer Veran staltung am Mittwochab­end in Marseille.
Fotos: Jeff J. Mitchell/Getty Images, Birgit Holzer (2) Diese Präsidents­chaftswahl ist eine Wahl der großen Emotionen. Inhaltlich­e Debatten bleiben oft außen vor. Unser Foto zeigt Anhänger von Marine Le Pen bei einer Veran staltung am Mittwochab­end in Marseille.
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