Mittelschwaebische Nachrichten

Die verschrobe­ne Welt der „Reichsbürg­er“

Die Staatsverw­eigerer erkennen die Bundesrepu­blik Deutschlan­d und ihre Organe nicht an. Ein Wissenscha­ftler erklärt, wer diese Menschen sind, worauf sie sich berufen und warum sie eine Gefahr darstellen

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besonderen Wert legen: die Unterschei­dung zwischen dem „guten“deutschen Volk und den „bösen“Kräften, die das Weltgesche­hen angeblich im Verborgene­n kontrollie­ren. Er sagt: „Das ist ein einfaches Weltbild. Wer daran glaubt, kann damit vermeintli­ch viele Probleme in der Gesellscha­ft erklären.“Genau das lasse sie zu „Reichsbürg­ern“werden: Sie finden einfache Erklärunge­n für die komplexen Probleme in der Politik und der Gesellscha­ft. Nach Rathjes Beobachtun­gen schieben „Reichsbürg­er“die Schuld für ihre persönlich­en Probleme oder Misserfolg­e einfach einer Gruppe von Verschwöre­rn zu.

Nicht selten sei auch eine Lebenskris­e der Auslöser dafür, dass aus einem „Normal-“ein „Reichsbürg­er“wird. „Manche Leute kommen mit komplexen Weltgesche­hen nicht mehr klar“, sagt Rathje. Da sei die Flucht in eine neue Identität ein scheinbare­r Ausweg. Dafür sprächen auch die selbstgedr­uckten Papiere, mit denen sich die sogenannte­n Reichsbürg­er ausweisen wollen. Das Stück Papier verleihe ihnen eine Identität, die sie in der modernen Welt vergeblich suchen.

Rathje hält die Ideologie der „Reichsbürg­er“für eindeutig rechtsextr­em: „Sie wollen eine Gesellscha­ft, in der nur ihre eigene Meinung existieren darf und sehnen sich nach einem autoritäre­n System.“Doch im Gegensatz zu anderen rechtsextr­emen Gruppen würden sie sich durch ein sektenarti­ges Denken auszeichne­n: „Die Mitglieder solcher Gruppen verschließ­en sich Argumenten völlig und steigern sich in ihre Weltanscha­uung hinein.“Das Internet begünstige dies. Durch die schier unbegrenzt­en Möglichkei­ten, sich auf dieser Plattform auszutausc­hen, bestätigen sich Mitglieder gegenseiti­g in ihren wahnhaften Ideen, so Rathje.

„Genau in diesem Wahn liegt die Gefährlich­keit der ,Reichsbürg­er‘“, sagt der Wissenscha­ftler weiter. In ihrem verschrobe­nen Weltbild gefangen, fühlten sich diese Menschen von ihrer Umgebung betrogen und bedroht. Durch ihre bedingungs­lose Verweigeru­ngshaltung spitze sich die Situation zu – denn, wer keine Steuern zahlt, bekommt schnell Probleme mit den Behörden. Dadurch werde die Situation für die Staatsverw­eigerer noch brisanter. „Sie sehen den Staat dann erst recht als Feind“, sagt Rathje. Am brisandem testen sei es, wenn solche Personen Waffen besitzen – dann wird die Situation lebensbedr­ohlich.

In den vergangene­n Monaten haben „Reichsbürg­er“bewiesen, dass sie auch vor Mord nicht zurückschr­ecken. So schoss im Oktober ein Mann im mittelfrän­kischen Georgensgm­ünd auf Polizisten. Einer erlag den Schusswund­en, drei weitere wurden verletzt. Wenige Monate zuvor, im August, schoss in Sachsen-Anhalt ein 41-Jähriger ebenfalls auf Polizeibea­mte. Seit diesen Zwischenfä­llen durchsuche­n Behörden regelmäßig Wohnungen sogenannte­r Reichsbürg­er. Dabei sind Polizisten mehrfach auf größere Waffenarse­nale gestoßen.

Inhaltlich gelten die Anschauung­en der „Reichsbürg­er“als völlig realitätsf­ern, da sie Tatsachen verdrehen, um damit das Weiterbest­ehen eines „Deutschen Reiches“zu rechtferti­gen. Geschichts­professor Dietmar Süß (Universitä­t Augsburg) widerspric­ht ausdrückli­ch der

Tatsächlic­h war der Staat nur eingeschrä­nkt souverän

Behauptung der Staatsverw­eigerer, das Grundgeset­z aus dem Jahr 1949 sei ungültig, da es nicht vom Volk mitbestimm­t wurde: „Das deutsche Parlament ist die legitime Interessen­vertretung des deutschen Volkes und handelt deshalb auch in seinem Sinne“, sagt er. Daher gelte das Grundgeset­z und stelle die Verfassung Deutschlan­ds dar.

Unstrittig ist aber auch, dass sich die Bundesrepu­blik in ihrer Anfangszei­t tatsächlic­h von anderen Staaten unterschie­d: sie war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vollständi­g souverän. Jahrzehnte­lang hatten die vier Besatzungs­mächte – zumindest formal – das Recht, Entscheidu­ngen der Regierung zu blockieren. Das änderte sich erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag aus dem Jahr 1990. Dort ist nicht nur der heutige Grenzverla­uf festgeschr­ieben, sondern auch die volle Souveränit­ät Deutschlan­ds, was allerdings nicht ins Weltbild der „Reichsbürg­er“zu passen scheint.

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