Mittelschwaebische Nachrichten
Paul Auster: Die Brooklyn Revue (18)
Truthahnduft erfüllte das ganze Haus. Edith servierte Drinks. Im Hintergrund sang Frank Sinatra („My Way“, wenn ich mich recht erinnere), und die reizende, arg verlegene Rachel verfolgte das alles mit gedemütigter Miene in dem Bewusstsein, dass sie für diese Störung der von ihrer Mutter so sorgfältig geplanten Party verantwortlich war.
Wir brachten den Elefanten nach draußen und stellten ihn kopfüber in das braune Herbstgras. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele verschiedene Werkzeuge wir aus der Garage holten, aber keins davon half uns weiter. Weder der Harkenstiel noch der Schraubenzieher, weder die Ahle noch der Hammer - nichts. Und der Rasierer sang noch immer seine eintönige Endlosarie. Einige Gäste waren uns in den Garten gefolgt, bekamen aber bald Hunger, froren oder langweilten sich und gingen einer nach dem anderen wieder ins Haus zurück. Nur ich nicht, nicht Nathan Glass, der sich durch nichts von seinem Ziel abbringen
ließ. Als ich schließlich begriff, dass alle Hoffnung vergeblich war, nahm ich den Vorschlaghammer und schlug die Toilette in Stücke. Der obstinate Rasierer plumpste ins Gras.
Ich schaltete ihn aus, schob ihn mir in die Tasche, ging ins Haus und überreichte ihn meiner errötenden Tochter. Soweit ich weiß, funktioniert das verdammte Ding noch heute.
Ich warf die Geschichte in die mit „Missgeschicke“beschriftete Schachtel, verputzte den Rest der Flasche und kletterte ins Bett. Um ehrlich zu sein (wie kann ich dieses Buch schreiben, wenn ich nicht ehrlich bin?), masturbierte ich mich in den Schlaf. Indem ich mir angestrengt ausmalte, wie Marina Gonzalez ohne Kleider aussehen mochte, versuchte ich in mir die Illusion zu wecken, gleich werde sie ins Zimmer treten und zu mir unter die Decke schlüpfen, um sich mit ihrem glatten warmen Leib fest an mich zu schmiegen.
Überraschung in der Samenbank
Wie der Zufall es wollte, kamen Tom und ich tags darauf beim Mittagessen (diesmal in einem japanischen Restaurant, da Marina im Diner ihren freien Tag hatte) unter anderem auf das Thema Masturbation zu sprechen. Es begann mit meiner Frage, ob es ihm gelungen sei, den Kontakt zu seiner Schwester wiederherzustellen. Soweit ich wusste, war sie das letzte Mal vor Junes Tod gesehen worden, als sie nach New Jersey gekommen war, um die kleine Lucy zurückzuholen. Das war 1992, vor gut acht Jahren, und da Tom sie tags zuvor nicht erwähnt hatte, nahm ich an, meine Nichte sei irgendwie vom Erdboden verschwunden, und niemand habe mehr etwas von ihr gehört.
Falsch. Ende 1993, kein Jahr nach der Beerdigung meiner Schwester, tüftelten Tom und zwei seiner Kommilitonen einen Plan aus, wie sie schnell an Geld kommen konnten. Am Stadtrand von Ann Arbor gab es eine Klinik, an der künstliche Befruchtungen durchgeführt wurden, und die drei beschlossen, der Samenbank ihre Dienste als Spender anzubieten. Sie hätten das als Jux aufgefasst, sagte Tom, keiner von ihnen habe sich Gedanken gemacht, was das für Konsequenzen haben könnte: Phiolen mit Ejakulat zu füllen, mit dem Frauen geschwängert wurden, die sie niemals sehen oder in den Armen halten würden und die wiederum Kinder zur Welt brachten – ihre Kinder –, von deren Namen, Leben und Schicksalen sie niemals etwas erfahren würden.
Jeder der drei wurde in einen kleinen, separaten Raum geführt, und um die Spender auf ihr Vorhaben einzustimmen, hatte die Klinik ihnen fürsorglich einen Stapel Sexmagazine bereitgelegt - jede Menge Fotos von nackten jungen Frauen in aufreizenden erotischen Posen. Wie das Tier im Manne nun einmal ist, kommt es selten vor, dass der Anblick solcher Bilder keine heftige Erektion auslöst. Ernsthaft wie in allen Dingen, setzte Tom sich gewissenhaft aufs Bett und begann in den Magazinen zu blättern. Nach zwei Minuten hingen ihm Hose und Unterhose um die Knöchel, mit der Rechten hatte er seinen Schwanz gepackt, mit der Linken schlug er weiter die Seiten um, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Sache erledigt war. Dann aber erblickte er in einem Heft, das er später als Midnight Blue identifizierte, seine Schwester. Kein Zweifel, das war Aurora – ein Blick, und Tom hatte sie erkannt. Sie hatte sich nicht einmal einen anderen Namen zugelegt. Die sechs Seiten mit über einem Dutzend Fotos standen unter dem Motto „Rory die Prachtfrau“und zeigten sie in verschiedenen Stadien der Entblößung: auf einem Bild im durchsichtigen Nachthemd, auf einem anderen in Strapsen und schwarzen Strümpfen, auf einem dritten in kniehohen Lackstiefeln, ab der vierten Seite aber war Rory nackt von Kopf bis Fuß, ihre kleinen Brüste streichelnd, ihre Genitalien berührend, den Hintern rausgestreckt, die Beine so weit gespreizt, dass nichts mehr der Phantasie überlassen blieb, und auf jedem Bild grinste sie, lachte sie, und ihre Augen leuchteten wie vor unbändigem Glück, vollkommen hingegeben, ohne Spur von Unlust oder Ängstlichkeit, als habe sie sich noch nie so wohl gefühlt.
„Das war ein unglaublicher Schock“, erzählte Tom. „In zwei Sekunden war mein Schwanz weich wie ein Marshmallow. Ich zog mir die Hose hoch, schnallte den Gürtel zu und verschwand von dort, so schnell ich konnte. Das hat mich umgehauen, Nathan. Meine kleine Schwester, nackt in einem Sexmagazin. Und auf so schreckliche Art davon zu erfahren – aus heiterem Himmel, in dieser verdammten Klinik, genau in dem Moment, wo ich mir einen runterhole. Mir ist buchstäblich schlecht geworden. Nicht nur, weil ich Rory nie so sehen wollte, sondern auch, weil ich seit Jahren nichts mehr von ihr gehört hatte, und diese Bilder schienen meine schlimmsten Albträume zu bestätigen, was aus ihr geworden sein mochte. Sie war erst zweiundzwanzig, und schon war sie an die niedrigste, die erniedrigendste Arbeit geraten: verkaufte ihren Körper für Geld. Das war alles so traurig, dass ich einen ganzen Monat lang hätte heulen können.“
Wenn man so lange gelebt hat wie ich, neigt man zu der Annahme, alles schon mal gehört zu haben und dass einen nichts mehr schockieren kann. Man wird ein wenig selbstgefällig mit seiner so genannten Weltkenntnis, und dann ergibt sich ab und zu einmal etwas, das einen aus dem blasierten Kokon der Überlegenheit herausstößt, das einen daran erinnert, dass man vom Leben noch absolut nichts verstanden hat. Meine arme Nichte. Die genetische Lotterie hatte es so gut mit ihr gemeint, immer nur hatte sie Gewinne gezogen. Anders als Tom, der seine Figur von den Woods geerbt hatte, war Aurora durch und durch eine Glass, und als Familie sind wir im Allgemeinen schlank, knochig und groß. Sie hatte sich zu einer Kopie ihrer Mutter entwickelt – eine langbeinige, dunkelhaarige Schönheit, so biegsam und geschmeidig wie June selbst. »19. Fortsetzung folgt