Mittelschwaebische Nachrichten
Paul Auster: Die Brooklyn Revue (19)
Natascha aus Krieg und Frieden, im Gegensatz zu ihrem grobschlächtigen, ungeschickten Bruder Pierre. Es versteht sich von selbst, dass jeder Mensch schön sein will, für eine Frau aber kann Schönheit zuweilen ein Fluch sein, besonders für eine junge Frau wie Aurora: die High School abgebrochen, keinen Mann, dafür eine dreijährige Tochter; ausgestattet mit einer wilden, rebellischen Ader, immer bereit, der Welt eine lange Nase zu machen und jedes Risiko einzugehen. Wenn du knapp bei Kasse bist und dein Aussehen das Einzige ist, womit du was verdienen kannst – warum solltest du Bedenken haben, dich auszuziehen und vor der Kamera zu posieren? Solange du die Situation im Griff behältst, kann das Eingehen auf ein solches Angebot den Unterschied zwischen essen und nicht essen bedeuten, den Unterschied zwischen gut leben und fast nicht mehr leben.
„Vielleicht hat sie es nur dieses eine Mal getan“, versuchte ich Tom
zu trösten, so gut es ging. „Verstehst du, sie kann die Rechnungen nicht bezahlen, und plötzlich kommt ein Fotograf daher und bietet ihr diese Sache an. Einen Tag arbeiten für ein dickes Bündel Bares.“
Tom schüttelte den Kopf, und seine deprimierte Miene sagte mir, dass meine Bemerkung bloß eine vergebliche Übung in Wunschdenken war. Er hatte nicht alles über sie herausgefunden, war aber überzeugt davon, dass diese Fotosession für Midnight Blue weder der Anfang noch das Ende der Geschichte gewesen waren. Aurora hatte als Obenohne-Tänzerin in Queens gearbeitet (ausgerechnet im Garden of Earthly Delights, dem Club, vor dem Tom in der Nacht seines dreißigsten Geburtstags die betrunkenen Geschäftsleute abgesetzt hatte), sie hatte in über einem Dutzend Pornofilmen mitgewirkt und sechs- oder siebenmal für Nacktmagazine posiert. Gut achtzehn Monate war sie im Sexbusiness tätig gewesen, und angesichts der guten Bezahlung wäre sie wahrscheinlich noch wesentlich länger dabeigeblieben, aber dann, nur neun oder zehn Wochen nachdem Tom sie in Midnight Blue entdeckt hatte, passierte etwas.
„Hoffentlich nichts Schlimmes“, sagte ich.
„Schlimmer als schlimm“, antwortete Tom und hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Sie wurde bei Dreharbeiten vergewaltigt. Vom Regisseur, vom Kameramann, von der halben Crew.“„O Gott.“„Die haben sie übel zugerichtet, Nathan. Am Ende hat sie so stark geblutet, dass sie ins Krankenhaus musste.“
„Diese Schweine könnte ich glatt umbringen.“
„Ich auch. Oder wenigstens dafür sorgen, dass sie ins Gefängnis kommen, aber sie hat auf eine Anzeige verzichtet. Sie wollte nur noch weg, nur noch raus aus New York. Sie hat sich bei mir gemeldet. Hat mir über die englische Fakultät der Uni einen Brief geschrieben, und als mir klar wurde, in was für Schwierigkeiten sie steckte, rief ich sie an und sagte, sie könne mit Lucy nach Michigan kommen und bei mir wohnen. Sie ist ein guter Mensch, Nathan. Das weißt du. Das weiß ich. Das weiß jeder, der je in ihre Nähe gekommen ist. Sie ist absolut in Ordnung. Ein bisschen überdreht vielleicht, ein bisschen eigensinnig, aber von Grund auf harmlos und vertrauensvoll, weniger zynisch als sie kann kein Mensch sein. Gut für sie, dass sie sich nicht geschämt hat, in der Pornobranche zu arbeiten. Ihr hat das Spaß gemacht. Spaß! Kannst du dir das vorstellen? Sie hat gar nicht mitbekommen, dass in diesem Geschäft nur Schweine arbeiten, der übelste Abschaum des Universums.“So gelangten Aurora und die dreijährige Lucy in den Mittleren Westen und zogen zu Tom in die beiden oberen Stockwerke des von ihm gemieteten Hauses. Aurora hatte vorher gutes Geld verdient, aber das meiste war für Miete, Kleider und das Kindermädchen für Lucy draufgegangen, und jetzt waren ihre Ersparnisse praktisch erschöpft. Tom hatte sein Stipendium, aber mehr als ein beschränktes Studentenleben war nicht drin, und damit es überhaupt reichte, hatte er einen Teilzeitjob an der Unibibliothek angenommen. Sie überlegten, ob sie ihren Vater in Kalifornien anrufen und um ein Darlehen bitten sollten, entschieden sich aber am Ende dagegen. Das Gleiche mit ihrem Stiefvater in New Jersey, Philip Zorn. Rorys Aggressivität als Teenager hatte sich verheerend auf das Familienleben ausgewirkt, und sie wollten sich nicht an einen Mann wenden, der seit den Schlachten jener Tage nichts als Verachtung für seine Stieftochter empfand. Tom erwähnte das seiner Schwester gegenüber nie, aber er wusste, dass Zorn Aurora insgeheim für den Tod ihrer Mutter verantwortlich machte. Sie hatte June lange Zeit in Aufruhr und Verzweiflung versetzt, und die einzige Wiedergutmachung für all dieses Leid war das unverhoffte Geschenk gewesen, ihre kleine Enkelin bei sich aufnehmen zu können. Dann wurde ihr auch die wieder genommen, und Zorn glaubte, der Schmerz über die Trennung von dem Kind habe sie umgebracht. Eine sentimentale Deutung, mag sein, aber ebenso gut konnte er auch Recht haben. Um ganz ehrlich zu sein, mir ist dieser Gedanke am Tag der Beerdigung auch gekommen.
Statt um Almosen zu betteln, besorgte Rory sich einen Job als Kellnerin im teuersten französischen Restaurant der Stadt. Sie hatte keine Erfahrung, gewann den Inhaber aber mit ihrem Lächeln, ihren langen Beinen und ihrem hübschen Gesicht, und da sie ein kluges Mädchen war, lernte sie rasch und hatte den Bogen schon nach wenigen Tagen raus. Das mochte im Vergleich zu ihrem Hochspannungsleben in New York ein großer Abstieg sein, aber Aufregung war jetzt das Letzte, was Aurora suchte. Ernüchtert und zerschlagen, noch immer verfolgt von dem Abscheulichen, das man ihr angetan hatte, ersehnte sie nichts mehr als eine langweilige, ereignislose Atempause, eine Chance, wieder zu Kräften zu kommen.
Tom erzählte von Albträumen, von plötzlichen Weinkrämpfen, von Phasen, in denen sie nur noch schwieg. Trotz alledem waren ihm die Monate, die sie bei ihm wohnte, auch als glückliche Zeit in Erinnerung, als eine Zeit großer Solidarität und gegenseitiger Anteilnahme, und jetzt, wo er seine Schwester zurückhatte, erwartete ihn das nie nachlassende Vergnügen, wieder einmal die Rolle des großen Bruders übernehmen zu können. Er war ihr Freund und Beschützer, ihr Ratgeber, ihre Stütze, ihr Fels. Als Aurora mit der Zeit ihren alten Schwung und Elan wiedererlangte, begann sie davon zu reden, dass sie den High-SchoolAbschluss nachmachen und aufs College gehen wolle. Tom ermutigte sie, den Plan zu verfolgen, und versprach ihr, bei der Arbeit zu helfen, falls ihr irgendetwas über den Kopf wachsen sollte. Es ist nie zu spät, sagte er immer wieder, es ist nie zu spät, noch einmal von vorn anzufangen, aber in gewisser Hinsicht war es das doch. Wochen vergingen, und als Rory die Entscheidung immer weiter hinauszögerte, musste Tom allmählich einsehen, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war. »20. Fortsetzung folgt