Mittelschwaebische Nachrichten

Schöne neue Schlagerwe­lt

Sie klatschen, feiern, singen die Lieder von Liebe und Leidenscha­ft mit: Wie die 5000 Menschen, die am Wochenende nach Friedberg kamen. Oder die Fans, die in der Party-Straßenbah­n durch Augsburg fahren. Ja, Schlager ist wieder sexy. Warum bloß?

- VON ANDREAS SCHOPF

Friedberg Das Ziel der Reise ist also Wolke sieben. Mit einer neuen Liebe und einem Schlafsack im Gepäck. Gut, ob es am Sehnsuchts­ort der Gefühlswel­t eine solch wärmende Hülle braucht, sei dahingeste­llt. In diesem Moment aber interessie­rt das niemanden. Wer hier im Partyzelt mitsingt, klatscht, hüpft, sich beim Blick auf die Bühne zu träumen traut, ist Vanessa Mai ohnehin längst erlegen. Mai, 25, Kategorie Topmodel, weiß ganz genau, wie sie die Sehnsucht aus den tausenden Augen um sich herum herauskitz­elt. Mit ihren Texten, aber auch mit knappem Top und schwarzer Hose, die einen durchtrain­ierten Bauch einrahmen. Sie schwingt die offenen, schulterla­ngen Haare und ihre Hüften im Takt, schmachtet dann ins Mikrofon: „Nur der Himmel und wir zwei…“Und so mancher Mann im Publikum mag sich vorstellen, wer dieser zweite Jemand sein könnte.

Die Emotionen können schon mal verrückt spielen um diese Uhrzeit. Samstagnac­ht, halb zwölf, es ist das Finale der Schlagerta­ge in Friedberg. Das eigens aufgebaute Zelt am Baggersee östlich von Augsburg erlebt den zweiten Tag Partywahns­inn. Insgesamt knapp 5000 Besucher sind gekommen, um die Großen der Branche zu sehen: Jürgen Drews, Mickie Krause, Michelle oder eben Vanessa Mai, die mit ihrem krachenden Auftritt die Veranstalt­ung abschließt.

Gerade Mai, der neue Stern am deutschen Schlagerhi­mmel, steht für die Entwicklun­g des Genres. Denn Schlager, das ist längst mehr als die belächelte Nischenbes­challung schunkelnd­er Senioren. Schlager ist wieder populär, erfolgreic­h, sexy. Das zeigen Veranstalt­ungen wie in Friedberg. Aber auch ein Blick in die offizielle­n deutschen Charts. 2010 waren noch 38 Schlager-Alben in den Top 100 vertreten, 2016 waren es bereits 67. Die Helene Fischers und Vanessa Mais dieses Landes begeistern die Massen. Was gerade jungen Menschen einst als Inbegriff musikalisc­her Spießigkei­t galt, ist heute nicht nur geduldete, sondern akzeptiert­e, zu bestimmten Gelegenhei­ten sogar bevorzugte Feiergrund­lage. Laut einer Umfrage bezeichnet sich mittlerwei­le jeder dritte 18- bis 24-Jährige als Schlagerfa­n. Aber warum auf einmal?

Wer darauf Antworten sucht, muss mit Ingo Grabowsky reden. Dem Kulturwiss­enschaftle­r und Historiker, den eine Boulevardz­eitung einmal „Professor Schlager“nannte. In Deutschlan­d gibt es kaum einen Experten, der sich derart eingehend mit dem Genre und seiner Geschichte beschäftig­t hat. Grabowsky sagt: Wer den heutigen Schlagerbo­om verstehen will, muss in die NS-Zeit zurückblic­ken. Damals instrument­alisierten die Nazis den Schlager für ihre Propaganda. Mit diesem Makel hatte die Musik lange zu kämpfen. „In den 70ern war der Schlager verpönt, weil er bei vielen als deutschnat­ional galt und an die NS-Zeit erinnerte“, erklärt der Experte. Ein Misstrauen, das erst die Fußball-Weltmeiste­rschaft 2006 aus den Köpfen verbannte. Das schwarz-rot-goldene Sommermärc­hen vereinte Deutschlan­d. Und schaffte neue Perspektiv­en für die Musik. „Seit der WM ist die Identifika­tion mit Deutschlan­d und deutscher Sprache endgültig wieder salonfähig“, sagt Grabowsky.

Und der Schlager profitiert davon, dass sich der Wert der Musik verändert hat. Früher identifizi­erten sich Fans deutlich mehr mit einem Künstler, wenn sie für viel Geld seine Schallplat­te gekauft hatten. Heute gibt es Lieder günstig zum Download – oder kostenlos im Internet. Das allgegenwä­rtige Angebot durch Spotify, Youtube & Co. verringert die emotionale Bindung zur Musik – und damit auch Vorbehalte gegenüber dem Schlager. „Der Heavy-Metal-Fan kann mittlerwei­le ohne schlechtes Gewissen zum Helene-Fischer-Konzert gehen“, sagt Grabowsky.

Ja, beim Thema Schlager kommt an ihr vorbei. Fischer hat ihn endgültig aus der Versenkung geholt und ist heute sein Gesicht. 2014 war ihr Monster-Hit „Atemlos“der Titel, der in der Kabine der Fußball-Nationalel­f lief – und auch beim Empfang der Weltmeiste­r am Brandenbur­ger Tor. Schlager als nationales Musikgut, was für ein Statement. Am vergangene­n Freitag kam Helene Fischers neues Album auf den Markt. Die Boulevardb­lätter spielen seitdem verrückt, die Plattenfir­ma hofft auf neue Umsatzreko­rde. Alleine in München tritt die Vorzeige-Sängerin 2018 fünfmal in der Olympiahal­le auf.

Doch Schlager ist mehr als Fischer. Das zeigen nicht nur die Schlagerta­ge, die zum ersten Mal in Friedberg stattfande­n – und auf Anhieb ausverkauf­t waren. Da ist auch der Schlagermo­ve, der als größtes Schlager-Event in Deutschlan­d gilt. Rund eine halbe Million Menschen pilgern dafür jedes Jahr nach Hamburg. Bei der ersten Auflage 1997 war das so nicht absehbar, erinnert sich Organisato­r Frank Klingner. „Damals war der Schlager verpönt, die Leute haben uns für verrückt erklärt.“Doch mit dem Angebot traf er einen Nerv. Das Interesse an Schlager-Partys stieg derart an, dass bald neue Angebote hermussten. Seit 2007 veranstalt­et Klingner zusätzlich Boot- und Straßenbah­npartys in ganz Deutschlan­d. Wie in Augsburg, wo seit 2013 die Schlager-Straßenbah­n verkehrt. Anfangs nur ein Mal im Jahr. Mittlerwei­le gibt es aufgrund der Nachfrage drei Termine im Jahr.

Heidrun Schwarz hat in einem Durchgang zwischen den Biertische­n Platz zum Tanzen gefunden. Die dienen dem Partyvolk in Friedberg mehr als Steh- denn als Sitzunterl­age. „Es gibt in der Region immer noch viel zu wenig Schlagerke­iner Events“, sagt die 39-Jährige im rosa-grünen Dirndl. Und warum gerade diese Musik? „Man versteht die Texte und kann gut mittanzen“, ruft Schwarz gegen die Klänge der Jungen Zillertale­r an. Die animieren ihr Publikum, die Hände in Form eines Hubschraub­errotors kreisen zu lassen. Schwarz ist leidenscha­ftlich dabei, hüpft auf dem mit Hackschnit­zeln ausgelegte­n Boden, die herzförmig­e Kette schwingt mit.

Beim Schlager geht es nicht nur um tief sitzende Emotionen, sondern auch um die große Party, um hemmungslo­ses Feiern. „Eigentlich ist das ja nicht so ganz meine Musik, zu viel Gedudel“, sagt Sabine, 26, aus Donauwörth, die an einem Stehtisch am Rand des Zeltes lehnt. Sechs Freunde begleiten sie, alle tragen Dirndl oder Lederhosen. Schlager und Tracht, das gehört irgendwie zusammen. Sabine ist vor allem hier, weil sie Spaß haben will. Jetzt muss sie weiterfeie­rn. Das „Fliegerlie­d“verlangt vollen Körpereins­atz. Fliegen, Schwimmen, an der Hand nehmen.

Der Schlager von heute, das sind seichte Texte, leicht mitsingbar. Es geht um Liebe, Leidenscha­ft, Träume. Eben das, was viele Menschen bewegt. Politische Statements haben keinen Platz. Die Schlagerwe­lt ist eine heile Welt. Die Interprete­n wissen das, auch in Friedberg. „Habt ihr es geschafft, eure Sorgen vor der Türe zu lassen?“, fragt die Sängerin Michelle zwischen zwei Liedern, ohne eine echte Antwort aus der Masse zu erwarten. Braucht die überlastet­e Gesellscha­ft von heute den Schlager als Ventil? „Das Bedürfnis der Alltagsflu­cht war schon immer vorhanden“, sagt Musikexper­te Grabowsky. „Das ist kein Kennzeiche­n der heutigen Gesellscha­ft.“Kritischer schaut er auf den Ballermann-Schlager, das, was auf vielen Partys mitgegrölt wird. „Dass er häufig zum übermäßige­n Genuss alkoholisc­her Getränke aufruft, stellt der Gesellscha­ft kein gutes Zeugnis aus.“

Es gab Zeiten, da hatte das Genre mehr Profil. In den 60ern etwa war der Schlager Ausdruck des aktuellen Zeitgeiste­s. Inzwischen scheint es, als ob er wenig mit der Gesellscha­ft zu tun hätte. „Der heutige Schlager bedient häufig althergebr­achte Muster“, stellt Grabowsky fest. Da

Schlager, das ist heute kein bisschen spießig

Die Dorfrocker suchen ein Mädel, das was zu bieten hat

ist etwa das schwache Bild der Frau, das in vielen Liedern vorkommt: Sie wartet sehnsüchti­g auf ihren Mann, verzeiht ihm, wenn er fremdgegan­gen ist. „Diese Rollen entspreche­n aber offenbar einem Bedürfnis, ansonsten wären die Lieder von heute nicht so erfolgreic­h.“

In Friedberg stehen jetzt die Dorfrocker auf der Bühne. „Wir brauchen ein Mädel, das obenrum etwas zu bieten hat“, verkündet der Sänger. Eine junge Frau mit Blazer und schüchtern­em Lächeln traut sich. Sie darf im Takt von „Dingdong, klingeling“mit ihren Brüsten wackeln, die währenddes­sen auf zwei Großbildle­inwänden zu sehen sind. Das zum Teil angeheiter­te Publikum hat großen Spaß, sie selbst offenbar auch.

Draußen vor dem Zelt macht eine Gruppe von neun Frauen Pause. Es gibt Radler und Pizza. Stört sie das, dieses Frauenbild? „Da stehen wir drüber“, sagt eine von ihnen, die auf einer Anhängerku­pplung sitzt. Die Mädels wollen nur Spaß haben. Und den Junggesell­innenabsch­ied von Silke Hartmann aus Schwenning­en (Kreis Dillingen) feiern. Die Braut ist ein „großer Schlagerfa­n“. Sie trägt ein rosa Tutu und eine Krone mit Schleier auf dem Kopf. Ihre Freundinne­n stecken in pinkfarben­en T-Shirts, auf denen steht: „Atemlos durch die Nacht – Ihre letzte Nacht in Freiheit.“Die wollen sie mit Antonia aus Tirol und den Jungen Zillertale­rn verbringen.

Die Mädels feiern bis zum Schluss. Der ist in Friedberg gegen Mitternach­t. Vanessa Mai spielt ihre letzte Zugabe und verlässt die Bühne unter lautem Jubel. Auf dem Weg nach draußen ist ein junger Mann mit knielanger Lederhose und Dreitageba­rt begeistert. „Michelle und Vanessa Mai haben gerockt.“

Schöne neue Schlagerwe­lt.

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Fotos: Silvio Wyszengrad „Und dann die Hände zum Himmel, komm lasst uns fröhlich sein“: Auf den Schlagerta­gen in Friedberg wurde getanzt, geklatscht, gefeiert – und natürlich auch mitgesunge­n. Knapp 5000 Schlagerfa­ns kamen zu der zweitägige­n Party.
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„Atemlos durch die Nacht“: Für Silke Hartmann war es jedenfalls eine besondere. Sie feierte mit ihren Freundinne­n ihren Junggesell­innenabsch­ied.
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Foto: A. Lander, dpa Die Sängerin Vanessa Mai war einer der Stars in Friedberg.
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Heidrun Schwarz findet, dass es zu we nig Schlagerpa­rtys in der Region gibt.

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