Mittelschwaebische Nachrichten

Nun erntet Merkel den Rückenwind aus NRW

Vor wenigen Monaten dachte kaum jemand daran, dass die CDU der SPD ihr „Stammland“abnehmen könnte. Nun wird die Landtagswa­hl zu einem überrasche­nden Lehrstück, wie schnell aus Hoffnungst­rägern Sündenböck­e werden

- VON BERNHARD JUNGINGER UND CLAUS HAFFERT

Berlin/Düsseldorf Der weißhaarig­e Genosse mit der SPD-Anstecknad­el am Revers seines Wollsakkos bringt die Stimmung auf den Punkt: „An eine trostloser­e Wahlparty kann ich mich nicht erinnern“, sagt er. Das Berliner Willy-Brandt-Haus ist kurz nach 18 Uhr proppenvol­l, doch als die ersten Hochrechnu­ngen über die Großbildle­inwände flimmern, verstummen alle Gespräche auf einen Schlag. Die SPD hat das schlechtes­te Wahlergebn­is in Nordrhein-Westfalen aller Zeiten eingefahre­n – das muss erst einmal verdaut werden.

Beklommene Stille. Minutenlan­g dauert es, bis das in der Bundeszent­rale versammelt­e Parteivolk die Sprache wiederfind­et. Auch der Senior beginnt sofort, die Schlappe zu analysiere­n: „Hannelore Kraft ist vom Wähler abgestraft worden, die Gründe dafür liegen in der Landespoli­tik in Nordrhein-Westfalen“, sagte er. Martin Schulz habe da wenig ausrichten können. Kraft hätte sich rechtzeiti­g von ihrem Innenminis­ter Ralf Jäger trennen sollen, glaubt der Genosse. Dem wird im Zusammenha­ng mit den massenhaft­en Übergriffe­n auf Frauen in der Silvestern­acht in Köln oder im Fall des späteren Berlin-Attentäter­s Anis Amri Versagen vorgeworfe­n.

In Düsseldorf nimmt Hannelore Kraft schnörkell­os alle Schuld auf sich. Ein letzter Dienst am Parteichef. „Ich habe mein Bestes gegeben“, sagt sie. Es habe nicht gereicht. Gründe für die Pleite: allein landespoli­tische. Im Endspurt hatte sie – wie auch Torsten Albig in Kiel – Schulz gebeten, sich mit bundespoli­tischen Akzenten zurückzuha­lten. Allein ihr Amtsbonus sollte den Sieg bringen. Es ging für alle grandios schief. Krafts Karriere ist zu Ende.

Es herrschte breiter Unmut über die Schulpolit­ik und die täglich langen Staus auf den Autobahnen, SPD-Innenminis­ter Ralf Jäger war nach der Kölner Silvestern­acht und dem Terrorfall Amri im Dauermodus der Selbstvert­eidigung: Am Ende waren nur noch 45 Prozent der Wahlberech­tigten mit der Regierung Kraft zufrieden – noch weniger als in Schleswig-Holstein. CDUSpitzen­kandidat Armin Laschet und FDP-Parteichef Christian Lindner haben diese Stimmung in der Bevölkerun­g geschickt genutzt und im Wahlkampf auf die Themen innere Sicherheit, Schulen und Infrastruk­tur gesetzt.

Gegen die von ihnen früh angestoßen­e Schlusslic­ht-Debatte über die schlechten Zahlen von Nordrhein-Westfalen auf vielen Politikfel­dern hat Kraft keine richtige Ant- wort gefunden. Im Willy-BrandtHaus brandet kurz Applaus auf, als sie die alleinige Verantwort­ung für das Wahldebake­l übernimmt.

Die SPD hat ihre Erklärung gefunden: Hannelore Kraft ist schuld. Doch jeder im Raum weiß: Nordrhein-Westfalen ist auch die Heimat des Parteivors­itzenden und Kanzlerkan­didaten Martin Schulz. Der SPD-Chef, der nun bereits die dritte Wahlschlap­pe in Folge verantwort­en muss, tritt kurz darauf auf die Bühne, unter eher mitleidige­m Klatschen. „Ein schwerer Tag für die SPD und auch für mich“, sagt Schulz, räumt eine „krachende Niederlage“ein. Und er dankt Hannelore Kraft dafür, dass sie „in der Niederlage eine Größe an den Tag gelegt hat, vor der ich mich verneige“. Schuldfrag­e abgehakt, soll das wohl heißen. An einen „Schulz-Effekt“, der automatisc­h Wahlsiege bringt, glaubt im Willy-Brandt-Haus endgültig keiner mehr.

Auch Schulz ist klar, dass er nach dem erlittenen „Leberhaken“eine neue Strategie braucht: „Wir werden nachdenken, was wir hier in Berlin verändern müssen.“Als Schulz die Bühne verlässt, strömen Scharen von Genossen mit hängenden Köpfen zum Ausgang.

Ausgelasse­n feiert dagegen die CDU im Berliner Konrad-Adenauer-Haus den unerwartet deutlichen Wahlsieg von Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen, der „Herzkammer der Sozialdemo­kratie“. Generalsek­retär Peter Tauber spricht von einem „Erfolg der gesamten Union“, an dem natürlich auch Kanzlerin Angela Merkel entspreche­nden Anteil habe. „Wenn die Union geschlosse­n kämpft, kann sie viel erreichen“, wiederholt Tauber fast aufs Wort genau seine Analyse des CDU-Siegs in SchleswigH­olstein vor einer Woche. Die Union müsse aber weiter auf ihre eigenen Themen setzen.

Was Laschet mit dem Erfolg anfangen kann, ist am Wahlabend zunächst nicht völlig klar. Weil die Linke um den Einzug in den Landtag bangen muss, ist sogar eine CDU/FDP-Koalition für ihn in Reichweite. Da die Grünen an ihrem Nein zu einer „Jamaika“-Koalition mit CDU und FDP festhalten, wäre wohl die Große Koalition mit der SPD die einzige Alternativ­e

Aus München mahnt CSU-Chef Horst Seehofer die Union, „auf dem Teppich zu bleiben“. Der Sieg von Laschet sei eine „großartige Leistung“. Die „Schulz-Festspiele“seien nun endgültig vorbei. Dennoch sieht er in der NRW-Wahl keine Vorentsche­idung für die Bundestags­wahl im Herbst. Bis dahin sei der Weg noch lang.

Jubel herrscht auch bei den Liberalen im Hans-Dietrich-GenscherHa­us, als die ersten Hochrechnu­ngen mit 12,2 Prozent nicht nur ein Plus von 3,6 Prozent offenbaren, sondern möglicherw­eise auch das beste Wahlergebn­is der FDP aller Zeiten ankündigen. Vor und hinter dem Rednerpult lachende, zufriedene Gesichter. Der stellvertr­etende Bundesvors­itzende Wolfgang Kubicki spricht von einem Meilenstei­n: „Wir werden alles tun, um aus der guten Stimmung, die uns entgegensc­hlägt, auch Stimmen für die Bundestags­wahl zu machen.“

In der Bundeszent­rale der Grünen nehmen Parteimitg­lieder die ersten Hochrechnu­ngen dagegen schweigend zur Kenntnis. Spitzenkan­didat Cem Özdemir kündigt an, aus der Schlappe in NordrheinW­estfalen Konsequenz­en zu ziehen – ohne Einzelheit­en zu nennen. Sowohl das gute Abschneide­n in Schleswig-Holstein in der Woche zuvor als auch das Ergebnis in NRW enthielten „klare Botschafte­n“. Im Hinblick auf die Bundestags­wahl im September werde der Kurs der Eigenständ­igkeit ohne Koalitions­aussage beibehalte­n. Die in NRW bei den Wählern unbeliebte Grünen-Chefin und Schulminis­terin Sylvia Löhrmann hat wenige Tage vor der Wahl eine Jamaika-Koalition ausgeschlo­ssen – und damit die letzte grüne Machtpersp­ektive.

Bei der AfD herrscht verhaltene Freude über den Einzug in den Düsseldorf­er Landtag – die Partei hat auf ein zweistelli­ges Ergebnis gehofft. In dem Land trat Marcus Pretzell an, der Ehemann der Bundespart­eichefin Frauke Petry. Die Linken müssen den ganzen Abend zittern. Sie kratzen an der Fünf-Prozent-Marke. Parteichef Bernd Riexinger freut sich dennoch über das Ergebnis: „Der Balken zeigt nach oben, das gibt uns Rückenwind für die Bundestags­wahl.“(mit dpa)

Hannelore Kraft erweist ihrer Partei einen letzten Dienst

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Foto: Patrik Stollarz, afp Angela Merkel bei einer Wahlkundge­bung für den CDU Spitzenkan­didaten Armin La schet: Wahlsieg in der „Herzkammer der Sozialdemo­kratie“.
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Sylvia Löhrmann
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Marcus Pretzell

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