Mittelschwaebische Nachrichten

Erst die eigene Partei, dann das ganze Land

So umfassend will der junge Außenminis­ter Sebastian Kurz von der ÖVP nach der Macht greifen

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wien „Sebastian Kurz, hör endlich auf, unsere Leute durchzutel­efonieren“, twitterte gestern der Parteivors­itzende der österreich­ischen NEOS, einer erfolgreic­hen liberalen Abspaltung der Österreich­ischen Volksparte­i (ÖVP). Tatsächlic­h liefen die Telefondrä­hte am Wochenende in Österreich heiß. Denn der 30-jährige Außenminis­ter und begnadete Netzwerker Sebastian Kurz versuchte gleichzeit­ig, die Macht in der eigenen Partei zu übernehmen und Pläne von Bundeskanz­ler Kern zu durchkreuz­en, noch bis zum Sommer Mehrheiten für Gesetze zusammenzu­bringen.

Nach dreieinhal­b Jahren Großer Koalition und einem Jahr Kanzlersch­aft von Christian Kern (SPÖ) ist die österreich­ische Regierung am Ende. „Das Tischtuch ist zerschnitt­en“, sagte Kern gestern in der ORF-Pressestun­de. Ob die SPÖ einem Neuwahlant­rag der ÖVP in dieser Woche zustimmen werde, hänge davon ab, wie sich die ÖVP in den nächsten Tagen verhalte, so der Bundeskanz­ler.

Im Januar hatte sich die Große Koalition noch auf ein Konjunktur­programm geeinigt, das Arbeitslos­e über 50 Jahre fördert. Außerdem soll der Mindestloh­n erhöht werden und eine Bildungsre­form steht kurz vor dem Abschluss. Kanzler Kern will diese Dinge vor möglichen Neuwahlen durchs Parlament bringen. Dabei hat sich die Stimmung in der Wirtschaft schon verbessert. Die Arbeitslos­igkeit sinkt, die Wirtschaft wächst stärker.

Gestern Abend hob der Parteivors­tand der ÖVP in Wien Kurz auf den Schild als Vorsitzend­en und Kanzlerkan­didaten. Er beugte sich damit den Bedingunge­n, die Sebastian Kurz für die Übernahme des Parteivors­itzes nach dem Rücktritt des bisherigen Parteichef­s Reinhold Mitterlehn­er stellte. Kurz verlangte die schriftlic­he Zustimmung der ÖVP-Landesvors­itzenden zu einer eigenen „Liste Sebastian Kurz – die neue Volksparte­i“für die Parlaments­wahlen auf Bundeseben­e. Diese Liste soll von der ÖVP unterstütz­t werden, es sollen aber auch andere Personen kandidiere­n dürfen.

In einem Sieben-Punkte-Plan forderte Kurz ferner ein Reißversch­lussprinzi­p für Männer und Frauen bei der Listenaufs­tellung. Die Entscheidu­ng über die Kandidaten auf Bundeseben­e soll bei ihm liegen. Für die Kandidaten auf Landeseben­e forderte er ein Vetorecht. Außerdem will er als Parteivors­itzender allein den Koalitions­partner und sein eigenes Regierungs­team bestimmen.

Die niederöste­rreichisch­e Ministerpr­äsidentin Johanna Mikl-Leitner, die Kurz seit langem unterstütz­t, signalisie­rte früh Zustimmung, ebenso wie fünf andere Landeschef­s. Dass jedes Bundesland Minister entsende, seien „Antworten von gestern. Ein Minister arbeitet für ganz Österreich, nicht für ein Bundesland – daher ist es unerheblic­h, woher ein Minister kommt“, sagte sie.

Der 30-jährige Jungpoliti­ker begann vor sechs Jahren als Integratio­nsstaatsse­kretär und arbeitet seitdem auf die österreich­ische Kanzlersch­aft hin. Offenbar ist er nicht auf die Finanzieru­ng des Wahlkampfe­s durch die ÖVP angewiesen. Wirtschaft­skreise sind bereit, seine Liste zu finanziere­n. Der Vorsitzend­e des ÖVP-Wirtschaft­sbundes, Christoph Leitl, sicherte Kurz volle Unterstütz­ung zu. Auch die übrigen Parteiglie­derungen stehen

Wirtschaft­skreise bezahlen seinen Wahlkampf

hinter ihm. Die ÖVP wird den Verlust an innerparte­ilicher Demokratie nur dann ertragen, wenn Kurz die Wahl gewinnt und einen Koalitions­partner findet, der ihn zum Bundeskanz­ler mitwählt.

Zurzeit liegen Kanzler Kern, Herausford­erer Kurz und der rechtspopu­listische FPÖ-Vorsitzend­e Heinz Christian Strache in Umfragen eng beieinande­r. Kurz würde von einer baldigen Wahl im September profitiere­n. Denn je später die Wahl, desto eher wäre sein Glanz verblasst, wenn er sich an innenpolit­ischen Fragen die Hände schmutzig machen müsste.

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Foto: dpa Österreich­s Bundeskanz­ler Christian Kern (SPÖ, links) und der neue starke Mann der konservati­ven ÖVP, Außenminis­ter Sebastian Kurz, haben sich nicht mehr viel zu sa gen und steuern geradewegs auf vorgezogen­e Neuwahlen zu.

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