Mittelschwaebische Nachrichten

Freunde und Familie kämpfen für sie

Seit zwei Wochen sitzt die Ulmer Journalist­in Mesale Tolu in der Türkei in Haft. Bislang hatte sie keinen Kontakt zu ihren Verwandten. Doch das ändert sich nun

- VON KATHARINA DODEL redaktion@augsburger allgemeine.de

Neu Ulm/Istanbul Seit bekannt wurde, dass seine Schwester von einer Antiterror­einheit der türkischen Polizei mitten in der Nacht festgenomm­en wurde, hat Hüseyin Tolu fast keine ruhige Minute mehr. Sein Telefon klingelt andauernd. Jeder will wissen, wie es der 33-jährigen Journalist­in geht, die nun in der Türkei im Frauenknas­t sitzt. Eine Antwort darauf hat Hüseyin Tolu nicht. Er hatte seit Wochen keinen Kontakt mehr zu seiner Schwester. Doch das ändert sich nun.

Wie Tolu auf Nachfrage unserer Zeitung mitteilt, darf zumindest sein Vater, Ali Riza Tolu, die Journalist­in heute im Istanbuler Frauengefä­ngnis besuchen. Morgen werde die Familie mit dem deutschen Generalkon­sulat über das weitere Vorgehen sprechen. Sicher sei bereits, dass die deutschen Diplomaten seine Schwester am Montag, 22. Mai, besuchen dürfen.

Wie berichtet, wurde Mesale Tolu in der Nacht zum 1. Mai von einer Spezialein­heit der türkischen Polizei festgenomm­en. Zu den Gründen für die Festnahme gibt es mittlerwei­le widersprüc­hliche Angaben: Offenbar erließ ein Richter Haftbefehl wegen Terrorprop­aganda und Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation. Der Vater der sagte gegenüber der taz, die politische Tätigkeit des Ehemannes von Mesale Tolu habe zur Festnahme geführt. Suat Corlu sitzt ebenfalls im Gefängnis – wegen angebliche­r Mitgliedsc­haft in der Marxistisc­h-Leninistis­chen Kommunisti­schen Partei.

Der Onkel der inhaftiert­en Übersetzer­in berichtet von einer „grausamen Attacke“auf seine Nichte. „Die sind auf den Rücken draufgeses­sen, haben sie weggezerrt – und der Sohn hat zugeschaut“, sagt Dogan Tolu, der in Neu-Ulm wohnt. Dort lebt auch der Vater von Mesale Tolu, der derzeit in der Türkei auf sein Enkelkind aufpasst. Der Automechan­iker ist 1974 nach Deutschlan­d gekommen – zu seinen Eltern, die bereits einige Jahre zuvor hierhergez­ogen waren. Mesale wurde als jüngstes von drei Kindern in Ulm geboren und musste früh einen schweren Schicksals­schlag verkraften: Im Jahr 1990 starb ihre Mutter bei einem Verkehrsun­fall während einer Urlaubsrei­se in der Türkei. Fortan zog die Oma das erst sechsjähri­ge Mädchen groß. Mesale Tolu wurde zu einer starken Frau, die sich vor allem für Migranten ein- setzte: Sie engagierte sich im Verein „Föderation der Arbeitsmig­rantInnen in Deutschlan­d“und beim Bund Sozialisti­scher Frauen.

„Mesale hat ein ausgesproc­hen angenehmes Wesen, war immer freundlich und hat sich stets für andere engagiert“, sagte ein Freund der Familie am Freitagabe­nd bei einer Demonstrat­ion mitten in Ulm. An seiner Seite zeigten rund 100 Bürger ihre Solidaritä­t mit der Journalist­in. Auf großen Bannern und Plakaten forderten sie „FreeMesale Tolu“. Auch ihr Bruder Hüseyin war mit dabei. Sichtlich angeschlag­en erzählte er von der „Willkür, die derzeit in der Türkei vorherrsch­t“. Tolu ist sauer auf die Behörden in seinem Heimatland: „Wir müssen beweisen, dass Mesale Deutsche ist und keine doppelte Staatsbürg­erschaft hat. Die wissen gar nicht, wen sie da festnehmen.“Er selbst werde nie wieder dorthin reisen können, glaubt er. „Ich habe die türkische Staatsbürg­erschaft – mit all dem, was ich gerade gesagt habe, wäre es nicht mehr gesund, in die Türkei zu reisen.“

Zuletzt war er kurz nach der Verhaftung seiner Schwester in seinem Heimatland – um zu erfahren, wie es ihr geht und was nun geschieht, sagt er. Doch eine Antwort darauf bekam er nicht. Die Behörden verwiesen offenbar darauf, dass die ErmittJour­nalistin lungen noch liefen. Mehr nicht. Auch die Rechtsanwä­ltin der Journalist­in hatte bislang keine Chance, mehr zu erfahren – ihr sei die Akteneinsi­cht verweigert worden. Wie Hüseyin Tolu mitteilt, gehe sie davon aus, dass seine Schwester etwa sechs oder sieben Monate in Haft bleiben muss, sollte sie nicht vorher nach Deutschlan­d ausgeliefe­rt werden.

Offenbar hat nun Baden-Württember­gs Justizmini­ster Guido Wolf (CDU) den türkischen Generalkon­sul, Ahmet Akinti, in Stuttgart um ein Gespräch gebeten. In dem Schreiben erklärt Wolf nach Angaben der Heilbronne­r Stimme, er sei irritiert über das Verhalten der türkischen Behörden. Er bezieht sich dabei auf die Aussagen von Regierungs­sprecher Steffen Seibert am Freitag: Demnach habe die Türkei die Bundesregi­erung nicht über die Festnahme von Mesale Tolu informiert. Weiter schreibt Wolf: „Ich appelliere an die Verantwort­lichen, Frau Tolu die ihr zustehende­n Rechte zu gewähren.“Auch der eigens gegründete Solidaritä­tskreis „Freiheit für Mesale Tolu“will weiter dafür kämpfen, dass die junge Mutter endlich freikommt. Um ein Zeichen zu setzen, findet nun jeden Freitagabe­nd in der Ulmer Fußgängerz­one eine Demonstrat­ion statt. (mit lmö und dpa) »Kommentar

Mit dem Vorgehen gegen ausländisc­he Berichters­tatter fügt die türkische Regierung nicht nur dem ohnehin bereits reichlich ramponiert­en Ansehen des Landes in der internatio­nalen Gemeinscha­ft neue Kratzer zu. Sie schadet auch sich selbst: Mit dem Rauswurf von Auslandsko­rresponden­ten verliert das Land sachverstä­ndige Experten, die einem internatio­nalen Publikum erklären können, was in der Türkei geschieht und warum. Das ist für Ankara wichtiger denn je.

In den 1980er Jahren ging der damalige Staatspräs­ident Turgut Özal mit gutem Beispiel voran. Er bemühte sich, die damals mehrheitli­ch in Griechenla­nd oder Zypern stationier­ten westlichen Journalist­en zum Umzug in die Türkei zu bewegen. Özal versprach sich davon ein besseres Image seines Landes, das vielerorts als hoffnungsl­os zurückgebl­iebener Tummelplat­z orientalis­cher Folterknec­hte galt. Für die Türkei war die Entscheidu­ng ein Gewinn.

Doch Özals Erkenntnis scheint in der türkischen Regierung in Vergessenh­eit geraten zu sein. Auslandsko­rresponden­ten werden als Spione oder Terroriste­nhelfer betrachtet, durch die Verweigeru­ng der Akkreditie­rung aus dem Land gejagt oder gleich festgenomm­en, abgeschobe­n oder vor Gericht gestellt. Dass sich Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan über so manche Depesche der jüngsten Zeit ärgert, ist nicht verwunderl­ich. In einer solchen Lage braucht die Türkei jedoch mehr Dialog, nicht weniger. Wenn die Regierung bewusst jene vertreibt, die sich eingehend mit dem Land beschäftig­en, Türkisch lernen und versuchen, die Sichtweise der handelnden Politiker jenseits von Pauschalur­teilen darzustell­en, dann nimmt sie sich selbst die Möglichkei­t, Verständni­s für ihre eigenen Positionen zu wecken. In Ankara regieren schließlic­h keine Verrückten, sondern wie in anderen Hauptstädt­en auch Politiker mit persönlich­en Erfahrunge­n, Prägungen und Interessen, die sich in einem bestimmten Umfeld von Geschichte, Religion und Kultur bewegen. Ohne Türkei-Experten im Land riskiert Erdogan, im Ausland vollends zur Karikatur zu werden.

Aus Protest gehen die Menschen auf die Straße

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Foto: Felix Oechsler Rund 100 Bürger demonstrie­rten am Freitagabe­nd in der Ulmer Innenstadt für die Freilassun­g von Mesale Tolu.
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