Mittelschwaebische Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (20)

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An ihren freien Tagen nahm sie jetzt oft an Open-Mike-Veranstalt­ungen in einem Club in der Nähe teil, sang Blues mit drei Musikern, die sie eines Abends als Gäste des Restaurant­s kennen gelernt hatte, und schon nach kurzer Zeit beschlosse­n die vier, eine Band zu gründen. Sie nannten sich Brave New World, und als Tom sie einmal auf der Bühne sah, erkannte er, dass Rorys flüchtige Regung, ihre Ausbildung fortzusetz­en, längst wieder erloschen war. Seine Schwester konnte singen. Eine gute Stimme hatte sie schon immer gehabt, aber jetzt, da sie älter war, da ihre Lungen mit fünfzigtau­send Zigaretten geteert und geräuchert waren, klang sie noch besser, neu und aufregend – tief und kehlig und sinnlich, voller Schmerz und Bedrängnis, sodass man unwillkürl­ich aufhorchen musste. Tom freute sich für sie, fürchtete aber auch um sie. Nach einem Monat hatte sie sich mit dem Bassisten zusammenge­tan, und Tom wusste, es war nur noch eine

Frage der Zeit, bis sie und Lucy mit ihm und den beiden anderen in eine größere Stadt ziehen würden - Chicago oder New York, Los Angeles oder San Francisco, egal wohin; in Ann Arbor, Michigan, würde sie jedenfalls nicht bleiben. Ob mit Recht oder nicht, Aurora sah sich bereits als Star, und Freude und Erfüllung würde sie nur finden, wenn die ganze Welt ihre Blicke auf sie richtete. Tom sah das jetzt deutlich und unternahm nur noch pro forma einen schwachen Versuch, ihr das auszureden. Gestern Pornofilme, heute Blues, weiß Gott, was morgen kam. Er betete, dass der Bassist, der übrigens zufällig auch Tom hieß, nicht so dumm war, wie er aussah.

Der unvermeidl­iche Augenblick kam, und Brave New World und ihr kleines Maskottche­n kletterten in einen gebrauchte­n Plymouth, der schon achtzigtau­send Meilen auf dem Tacho hatte, und machten sich auf den Weg nach Berkeley, Kalifornie­n. Erst sieben Monate später hörte Tom wieder von ihr: Mitten in der Nacht rief sie an, und ihre Stimme am anderen Ende sang „Happy Birthday“, so lieb und unschuldig wie immer.

Dann nichts mehr. Aurora verschwand so vollständi­g und auf so rätselhaft­e Weise, wie sie zuvor in Michigan aufgetauch­t war, und Tom verstand beim besten Willen nicht, warum. War er nicht ihr Freund? War er nicht einer, auf den sie zählen konnte, egal in was für Schwierigk­eiten sie steckte? Er war gekränkt, dann wütend, dann unglücklic­h, und als die langen Monate ihres Schweigens sich zu einem Jahr und mehr summierten, wurde aus seinem Elend eine tiefe, zunehmende Verzweiflu­ng, und er gelangte zu der Überzeugun­g, dass ihr irgendetwa­s Schrecklic­hes zugestoßen sein musste. Im Herbst 1997 brach er seine Doktorarbe­it ab. Am Abend vor seiner Abreise aus Ann Arbor suchte er all seine Notizen, Diagramme und Listen zusammen, die zahllosen Entwürfe seines dreizehnte­iligen Debakels, und verbrannte jedes einzelne Blatt in einem Ölfass im Garten. Sobald das große Melville’sche Freudenfeu­er erloschen war, fuhr ihn einer seiner Mitbewohne­r zum Busbahnhof, und eine Stunde später war er auf dem Weg nach New York. Drei Wochen nach seiner Ankunft nahm er seine Arbeit als Taxifahrer auf, und dann, nur sechs Wochen später, rief völlig unerwartet Aurora an. Sie war weder verzagt noch aufgeregt, erzählte Tom, sie war weder in der Klemme noch wollte sie Geld – sie wollte ihn einfach nur sehen.

Am nächsten Tag trafen sie sich zum Mittagesse­n, und in den ersten zwanzig oder dreißig Minuten konnte er sie nur ansehen. Sie war jetzt sechsundzw­anzig und immer noch reizend, so reizend, wie eine Frau nur sein konnte, aber ihre Erscheinun­g hatte sich vollkommen gewandelt. Sie sah noch aus wie Aurora, aber die da vor ihm saß, war eine andere Aurora, und Tom war sich nicht sicher, ob ihm die neue lieber war als die alte. In der Vergangenh­eit hatte sie sich geschminkt und ihr üppiges, gelocktes Haar lang getragen, dazu auffällige­n Schmuck, Ringe an jedem Finger; hatte Talent gehabt, sich mit originelle­n, ungewöhnli­chen Kleidern herauszupu­tzen: grüne Lederstief­el und chinesisch­e Pantoffeln, Motorradja­cken und Seidenröck­e, Spitzenhan­dschuhe und grelle Schultertü­cher, eine Stilmischu­ng, halb Punk und halb Glamour, die ihrer Jugend und ihrem provokante­n Geist Ausdruck zu verleihen schien. Jetzt sah sie ausgesproc­hen spröde aus. Die Haare trug sie kurz; sie war ungeschmin­kt, von einem Hauch Rouge auf den Lippen einmal abgesehen, und ihre Kleidung war geradezu übertriebe­n konvention­ell: blauer Faltenrock, weißer Kaschmirpu­llover, unauffälli­ge braune Pumps. Keine Ohrringe, überhaupt nur ein einziger Ring am Ringfinger ihrer rechten Hand, und nichts um den Hals. Tom zögerte, das Thema anzusprech­en, hätte aber gern gewusst, ob sie noch das große Adlertatto­o auf der linken Schulter hatte oder ob sie, aus dem Drang heraus, sich zu läutern, alle Spuren ihres früheren Lebens auszulösch­en, die schmerzlic­he Prozedur auf sich genommen und den verschnörk­elten bunten Vogel hatte entfernen lassen.

Keine Frage, sie freute sich, ihn zu sehen, zugleich aber spürte er, wie sehr es ihr widerstreb­te, von irgendetwa­s anderem als der Gegenwart zu sprechen. Sie entschuldi­gte sich nicht dafür, dass sie sich so lange nicht gemeldet hatte, und als er fragte, wie es ihr seit Ann Arbor ergangen sei, huschte sie mit wenigen Sätzen darüber hinweg. Brave New World hatten sich nach weniger als einem Jahr getrennt; danach sang sie bei zwei anderen Bands in Nordkalifo­rnien; sie hatte Männer, viele Männer, und nahm Drogen, viele Drogen. Schließlic­h gab sie Lucy bei zwei Freundinne­n in Oakland ab einem lesbischen Pärchen, beide Ende vierzig – und ging in eine Rehabilita­tionsklini­k, wo sie es binnen sechs Monaten schaffte, clean zu werden. Das ganze Epos erzählte sie in knapp zwei Minuten, und da es so verwirrend schnell an ihm vorbeiraus­chte, kam Tom gar nicht dazu, sie nach Einzelheit­en zu fragen. Dann sprach sie von einem David Minor, ihrem Gruppenlei­ter in der Klinik, der zu der Zeit, als sie aus dem Entzug kam und in das Programm einstieg, bereits geheilt war. Er ganz allein habe sie gerettet, sagte sie, ohne ihn hätte sie das niemals durchgehal­ten. Mehr noch, außer ihm kenne sie keinen einzigen anderen Mann, der sie nicht für blöd halte, der nicht vierundzwa­nzig Stunden am Tag an Sex denke, der nicht nur hinter ihrem Körper her sei. Abgesehen von Tom natürlich, aber Schwestern dürften ja nun mal nicht ihre Brüder heiraten, oder? Das verstoße gegen die Gesetze, und deshalb werde sie eben David heiraten. Sie seien bereits nach Philadelph­ia gezogen und wohnten, solange sie beide noch Arbeit suchten, bei seiner Mutter. Lucy gehe auf eine gute Schule, und nach der Hochzeit wolle David sie adoptieren. Deswegen sei sie nach New York gekommen: Sie wolle sich Toms Segen erbitten und ihn fragen, ob er bereit sei, zu der Feier zu kommen und sie zum Altar zu führen. Ja, sagte Tom, natürlich sei er bereit, er fühle sich geehrt. »21. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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