Mittelschwaebische Nachrichten
Martin Luther wäre stolz auf solche Christen
Der Evangelische Kirchentag in Berlin gibt sich heiter und locker. Im Eintreten für die Menschenwürde dulden die Protestanten aber keine Kompromisse
Martin Luther wäre stolz auf seine Protestanten. 500 Jahre nach der Reformation schwimmen sie noch immer gegen den Strom und haken hartnäckig nach, wo all die Realos der Welt nur die Achseln zucken. Die Teilnehmer des 27. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Berlin wollten mitreden, weil sie fest darauf vertrauen, dass es Alternativen zur gegenwärtigen Politik gibt. Solche, die den Menschen mehr gerecht werden, die unsere Gesellschaft gerechter machen können.
Mögen sich auch zu Hause die Kirchen beim Sonntagsgottesdienst leeren, auf dem Kirchentag kommen immer noch mehr als 100 000 Protestanten (und ihre Sympathisanten) zusammen. Sie wollen bestärkende Einheit erleben, miteinander ihren Glauben feiern und das Gefühl genießen, nicht als die Letzten das Licht auszumachen. Gewiss: Auf dem Kirchentag fanden sie eine Insel der Seligen, hier war von Kirchenkrise und Glaubensschwund fast nichts zu spüren. Wohl aber von einer neuen Art, Christentum gemäß dem heutigen Lebensgefühl auszudrücken. Nämlich auf so spielerische Weise, dass sich Luther verdutzt die Augen reiben würde – mit augenzwinkernden Emojis, die das heitere Rückgrat moderner Kurzkommunikation bilden.
Das Motto des Kirchentags „Du siehst mich“erwies sich als hoch aktuell. Gerade weil der Blick des modernen Menschen fast permanent auf sein Smartphone geheftet ist und dadurch jeder einen unsichtbaren Kokon um sich herumspinnt. Mit ihrer Aufforderung warb die Kirche dafür, sich mitmenschlich auch im echten Leben wieder wahrzunehmen. Widerständig wirkte das Kirchentagsmotto aber auch gegen die sich ausbreitende gesellschaftliche Versuchung, dominant die eigenen politischen Interessen in den Vordergrund zu stellen. In der rechtspopulistischen Spielart bedeutet das die Interessen von Volk und Vaterland – mit der Folge, sich gegen Fremde und andere abzugrenzen, ihre Ansprüche auf Schutz und Zuflucht abzuwehren und die Fremden zu bedrohlichen Feinden zu erklären. Mutig stellte sich der Kirchentag der Auseinandersetzung mit der AfD von Angesicht zu Angesicht. Ein versöhnliches Ende war bei dieser Debatte nicht zu erwarten.
Man hatte dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich BedfordStrohm, im Vorfeld des Kirchentags vorgeworfen, er leiste der Kanzlerin Wahlkampfhilfe, weil er Barack Obama eingeladen und vor dem Reichstag kameragerecht mit Angela Merkel zusammengebracht hat. Auch ein Kirchentag braucht Prominenz, um öffentlich beachtet zu werden. Der Erfolg gab dem Bischof recht: 70000 Besucher kriegt selbst ein Massenereignis wie der Kirchentag selten zusammen und die Bilder davon werden mit der Kirche verknüpft sein.
Vernachlässigt die Kirche ihre Kernaufgabe, das Evangelium zu verkünden, wenn sie das Gespräch mit den Mächtigen dieser Welt sucht und sich in ihre Händel einmischt? „Wer fromm ist, muss auch politisch sein“, lautet das Credo von Bedford-Strohm. Und er hat recht. Dem Christen kann der Zustand der Welt nicht egal sein, er darf sich nicht auf sein persönliches Seelenheil zurückziehen. Schon Martin Luther hat politische Schriften verfasst, um dem Evangelium in seiner Zeit Geltung zu verschaffen. Liebe deinen Nächsten, ohne Wenn und Aber, lautet das elementare Gebot von Jesus Christus. Es duldet keine Kompromisse, um der Welt gefällig zu sein. Eine solche Einstellung wird gern mitleidig als Gutmenschentum abgetan. Doch ist das Eintreten für ein menschenwürdiges und menschliches Zusammenleben etwas für Träumer?
Bedford-Strohm wurde für Obama kritisiert