Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Leben am Beatmungsg­erät

Lia muss rund um die Uhr mit Sauerstoff versorgt werden. Kinder wie die Vierjährig­e können nur für eine kurze Zeit selbststän­dig Luft holen

- VON HOLGER SPIERIG

Bad Oeynhausen/Bielefeld Konzentrie­rt hält Lia den Stab in ihrer Hand. Eine Pädagogin macht ihr vor, wie sie damit auf ein Musikinstr­ument aus Metallröhr­chen schlagen und einen Klang entstehen lassen kann. Musikstund­e in der Frühförder­ung: Die Vierjährig­e lernt einfache Bewegungen und Reaktionen. Neben Lia surrt ihr ständiger Begleiter – ein Beatmungsg­erät mit zylindrisc­hem Sauerstoff­tank, etwas größer als sie selbst. Ein Schlauch führt von einer Kanüle in ihrem Hals zu der Maschine. Lia wird vielleicht ihr ganzes Leben mit dem Gerät verbunden sein.

Nur über eine kurze Zeit schafft sie es, selbst zu atmen. Das selbststän­dige Atmen belastet sie aber so sehr, dass ihr dann Kraft zum Spielen oder für andere Entwicklun­gen fehlt. Puls und Sauerstoff­sättigung des Blutes müssen rund um die Uhr überwacht werden. Das Mädchen, das mehrfachbe­hindert ist, lebt in der Diakonisch­en Stiftung Wittekinds­hof in Bad Oeynhausen. Bei Spazierfah­rten an die frische Luft saß sie anfangs in einem Zwillingsk­inderwagen, heute in einem größeren Rollstuhl – mit genug Platz für ein mobiles Sauerstoff­gerät. Mit dem kleineren Gerät und längeren Schläuchen kann Lia sogar in ein Schwimmbec­ken.

Schätzunge­n zufolge müssen bundesweit rund 4000 Kinder dauerhaft beatmet werden, erklärt der leitende Arzt an der Kinderklin­ik Bethel in Bielefeld, Thomas Boesing. Eine bundesweit einheitlic­he Erhebung gebe es nicht. Vor rund 20 Jahren hatten dauerbeatm­ete Kinder nur wenig Überlebens­chancen. Sie wurden auf Intensivst­ationen in Krankenhäu­sern versorgt, oft weit entfernt von ihren Familien. Durch Fortschrit­te in der Medizin kann heute ein Großteil der beatmeten Kinder zu Hause leben.

Im Betheler Kinderzent­rum in Bielefeld, in dem etwa 70 Patienten betreut werden, werden Eltern und Patienten geschult: Damit werden die Familien fit gemacht für eine Versorgung zu Hause. „Denn nicht immer können sie auf ambulante Pflege rund um die Uhr vertrauen“, sagt Boesing. Die Erkrankung stellt Mediziner häufig noch vor Rätsel. Oft seien es angeborene oder frühe Erkrankung­en von Lunge, Nerven und Muskelgewe­be, die eine dauerhafte Beatmung von Kindern notwendig machten, sagt Boesing.

Weil die Ursachen sehr unterschie­dlich sind, gibt es keine Standardbe­handlung. „Wir wurden von einem Arzt zum nächsten geschickt“, berichtet Lias Mutter, Vanessa Klein.

Nach der 30. Schwangers­chaftswoch­e sei klar geworden, dass etwas mit dem Baby nicht stimmte. Sobald Lia per Kaiserschn­itt auf die Welt gekommen war, „haben wir um ihr Leben gekämpft“, erzählt die Mutter. Wenige Stunden nach der Geburt musste ein Luftröhren­schnitt gemacht und Lia beatmet werden. Bei dem Mädchen kommen mehrere Einschränk­ungen hinzu, unter anderem eine geistige Behinderun­g. Die genaue Ursache kennen die Eltern bis heute nicht. Vermutet wird ein Gendefekt. Fast ihr gesamtes erstes Lebensjahr hat Lia in Kliniken verbracht, oft auf der Intensivst­ation. Dann kam sie mit einem Rettungshu­bschrauber in die Diakonisch­e Stiftung Wittekinds­hof.

Die Eltern haben sich entschiede­n, Lia im Wittekinds­hof aufwachsen zu lassen. „Am Anfang war es schwer, zu sagen: Ich gebe mein Kind jetzt ab“, sagt Vanessa Klein, die mit ihrem Mann regelmäßig aus dem 70 Kilometer entfernten Schieder-Schwalenbe­rg zu Besuch kommt. „So wie sich Lia im Wittekinds­hof entwickeln konnte, das hätten wir zu Hause nicht geschafft.“Wenn Lias Zustand stabil bleibt, kann sie bald für einige Stunden am Tag in den Kindergart­en. Die Förderschu­le, in die Lia später gehen kann, liegt direkt gegenüber.

Dauerbeatm­ete Kinder wie Lia werden leicht krank. „Die Kanüle im Hals ist ein Einfallsto­r für Viren“, erklärt Betreuerin Imke Holtmann. Durch das höhere Risiko sterben beatmete Kinder oft früh. Es sei wichtig, mit den Eltern frühzeitig, solange es den Kindern noch gut geht, über das Sterben zu sprechen, rät Holtmann. „Wir wissen, dass Lia wahrschein­lich nicht so alt werden wird wie andere Kinder“, sagt Vanessa Klein. „Wir sind jeden Tag darauf vorbereite­t, dass das Telefon klingelt.“Zweimal bereits waren Ärzte am Telefon, die den Eltern sagten, sie sollten sofort kommen, weil es Lia diesmal vielleicht nicht schaffen könnte. „Wir genießen die Zeit, die wir mit ihr haben“, sagt die Mutter. (epd)

 ?? Foto: Anke Marholdt, epd ?? Die vierjährig­e Lia, die in Bad Oeynhausen betreut wird, ist bis zu ihrem Lebensende auf ein Beatmungsg­erät angewiesen. Das Foto zeigt das Mädchen mit ihrer Pädago gin.
Foto: Anke Marholdt, epd Die vierjährig­e Lia, die in Bad Oeynhausen betreut wird, ist bis zu ihrem Lebensende auf ein Beatmungsg­erät angewiesen. Das Foto zeigt das Mädchen mit ihrer Pädago gin.

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