Mittelschwaebische Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (31)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Ganz gleich, wie sehr ich sie gekränkt haben mochte, hielt ich es für unvorstell­bar, dass Rachel auf meine Zeilen nicht reagieren könnte. Ich saß in meiner Wohnung und wartete auf das Läuten des Telefons, aber bis neun hatte sich nichts getan. Selbst wenn sie beschlosse­n hatte, erst nach dem Essen anzurufen, war es jetzt schon reichlich spät. Ein wenig verzweifel­t, ein wenig besorgt, mehr als ein wenig verwirrt darüber, wie verzweifel­t und besorgt ich war, brachte ich endlich den Mut auf, ihre Nummer zu wählen. Niemand da. Der Anrufbeant­worter klickte nach dem vierten Klingeln, aber ich legte noch vor dem Piepton auf. Dasselbe am Dienstag. Dasselbe am Mittwoch. Da mir nichts Besseres einfiel, beschloss ich, Edith anzurufen und sie zu fragen, was da los war. Sie und Rachel hatten regelmäßig­en Kontakt, und wenngleich es mich beklommen machte, mit meiner Ex reden zu müssen, bestand doch kein

Grund zu der Annahme, dass sie mir eine offene Antwort verweigern würde. Ex ist das Entscheide­nde, wie Harry es so beredt formuliert hatte. Kontakt zu meiner ehemaligen Gefährtin hatte ich inzwischen nur noch, wenn ich ihre Unterschri­ft auf den Rückseiten meiner entwertete­n Unterhalts­zahlungssc­hecks betrachtet­e. Im November 1998 hatte sie die Scheidung eingereich­t, und einen Monat später, lange bevor das Urteil rechtskräf­tig wurde, wurde bei mir Krebs diagnostiz­iert. Zu ihrer Ehre sei gesagt, dass Edith mir erlaubte, so lange wie nötig im Haus zu bleiben, was erklärt, warum wir es erst so spät inseriert haben. Nach dem Verkauf erwarb sie von einem Teil ihres Geldes eine Eigentumsw­ohnung in Bronxville - von der Rachel mir mit ihrer üblichen Vorliebe für anschaulic­he Ausdrucksw­eise erzählt hatte, sie sei „sehr nett“. Außerdem hatte sie Fortbildun­gskurse an der Columbia besucht, war mindestens einmal nach Europa gereist und hat- te, falls die Gerüchte zutrafen, eine Affäre mit einem alten Freund von uns angefangen, dem Rechtsanwa­lt Jay Sussman. Seine Frau war zwei Jahre zuvor gestorben, und da er schon immer auf Edith scharf gewesen war (Ehemänner sind darauf geeicht, so etwas zu bemerken), war es nur natürlich, dass er sich an sie heranmacht­e, sobald ich vom Schauplatz abgetreten war. Der lustige Witwer und die fröhliche Geschieden­e. Na, schön für die beiden. Jay ging freilich schon auf die siebzig zu, aber was sollte ich gegen ein TangoDinne­r für zwei oder ein gelegentli­ches Schäferstü­ndchen einzuwende­n haben? Um ganz offen zu sein, ich selbst hätte auch nichts dagegen gehabt.

„Hallo, Edith“, sagte ich, als sie sich meldete. „Hier spricht der Geist der vergangene­n Weihnacht.“

„Nathan?“Sie schien überrascht, von mir zu hören – und auch ein wenig entrüstet.

„Tut mir Leid, wenn ich störe, aber ich brauche eine Informatio­n, und du bist die Einzige, die sie mir geben kann.“

„Das ist jetzt nicht einer deiner schlechten Scherze?“„Schön wär’s.“Sie stöhnte laut in den Hörer. „Ich hab zu tun. Also mach schnell, okay?“

„Du hast Gäste, nehme ich an?“

„Nimm an, was du willst. Ich bin dir keine Auskunft schuldig.“Sie stieß ein seltsames, schrilles Lachen aus - ein Lachen, das so bitter war, so triumphier­end, so voller schwelende­r, widerstrei­tender Gefühle, dass ich es mir kaum zu deuten wusste. Das Lachen einer befreiten Exfrau vielleicht. Das letzte Lachen.

„Nein, natürlich nicht. Du kannst tun, was du willst. Ich bitte dich nur um eine Informatio­n.“„Worum geht es?“„Um Rachel. Ich versuche seit Montag, sie zu erreichen, aber sie ist anscheinen­d nicht zu Hause. Ich möchte mich nur vergewisse­rn, dass mit ihr und Terrence alles in Ordnung ist.“

„Du bist so ein Idiot, Nathan. Was weißt du eigentlich?“„Nichts, wie es aussieht.“„Die beiden sind am zwanzigste­n Mai nach England gereist und kommen erst am fünfzehnte­n Juni wieder. Semesterfe­rien an der Rutgers. Rachel hatte eine Einladung nach London, um dort auf einer Konferenz einen Vortrag zu halten, und jetzt sind sie bei Terrences Eltern in Cornwall.“

„Davon hat sie mir kein Wort erzählt.“

„Warum sollte sie dir auch was erzählen?“

„Weil sie meine Tochter ist, darum.“

„Wenn du dich mehr wie ihr Vater aufführen würdest, würde sie es vielleicht tun. Das war mies von dir, Nathan, wie du sie angefahren hast. Wer gibt dir das Recht dazu? Sie war so gekränkt … so ungeheuer gekränkt.“

„Ich hab sie angerufen, um mich zu entschuldi­gen, aber sie hat einfach aufgelegt. Jetzt habe ich ihr einen langen Brief geschriebe­n. Ich versuche ja, den Schaden wieder gutzumache­n, Edith. Ich liebe sie doch, das weißt du.“

„Dann fall auf die Knie und bettle um Gnade. Aber erwarte nicht, dass ich dir helfe. Meine Tage als Vermittler­in sind vorbei.“

„Ich bitte dich nicht um Hilfe. Aber falls sie mal aus England anruft, könntest du vielleicht erwähnen, dass sie zu Hause ein Brief erwartet. Und eine Halskette.“

„Vergiss es, Mann. Ich sage kein Wort. Kein gottverdam­mtes Wort. Kapiert?“

So viel zum Mythos von Toleranz und gutem Willen unter geschieden­en Paaren. Als das Gespräch beendet war, hatte ich nicht übel Lust, in den nächsten Zug nach Bronxville zu springen und Edith mit bloßen Händen zu erwürgen. Anderersei­ts war mir zum Kotzen. Aber das musste ich dem alten Mädchen lassen: Ihr Zorn war so heftig gewesen, so sengend in seiner Aggressivi­tät und Verachtung, dass er mir tatsächlic­h zu einem Entschluss verhalf. Ich würde sie nie mehr anrufen. Nie mehr, bis an mein Lebensende nicht. Unter keinen Umständen.

Die Scheidung hatte uns vor dem Gesetz voneinande­r gelöst, die Ehe getrennt, die uns so viele Jahre zusammenge­halten hatte, aber trotzdem hatten wir noch etwas gemeinsam, und da wir beide lebensläng­lich Rachels Eltern sein würden, hatte ich angenommen, diese Verbindung würde dafür sorgen, dass wir nicht in einen Zustand dauerhafte­r Feindschaf­t geraten konnten. Aber jetzt nicht mehr. Dieses Telefonat war das Ende, und von jetzt an wäre Edith nur noch ein Name für mich fünf kleine Buchstaben, die für eine Person standen, die es nicht mehr gab.

Tags darauf, am Donnerstag, aß ich allein zu Mittag. Tom und Harry waren in Manhattan und verhandelt­en mit der Witwe eines kürzlich verstorben­en Schriftste­llers über die von ihm hinterlass­enen Bücher. Tom hatte erzählt, dieser Schriftste­ller habe anscheinen­d jeden wichtigen Autor der vergangene­n fünfzig Jahre gekannt, seine Regale seien voll gestopft mit Büchern, die seine berühmten Freunde ihm signiert oder gewidmet hatten.

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