Mittelschwaebische Nachrichten

Wurde der Putsch von Erdogan kontrollie­rt?

Vieles deutet darauf hin, dass die Spitzen von türkischer Armee und Geheimdien­st längst über die Pläne für einen Aufstand informiert waren. Jetzt wird spekuliert, warum sie die Regierungs­gegner zunächst gewähren ließen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Washington/Istanbul Wenn es nach der türkischen Regierung geht, gibt es keine Zweifel: Der Putschvers­uch des vergangene­n Sommers wurde auf Befehl des Predigers Fethullah Gülen ausgeführt, und der Plan scheiterte am beherzten Widerstand von Präsident Recep Tayyip Erdogan und vieler Normalbürg­er auf den Straßen des Landes. Fast ein Jahr nach der Putschnach­t vom 15. Juli kommen aber neue Fragen auf: Aussagen eines Informante­n des Geheimdien­stes und Stellungna­hmen mutmaßlich­er Putschiste­n vor Gericht legen nahe, dass Ankara frühzeitig über die Putschplän­e informiert war, den Umsturzver­such aber nicht verhindert­e. Westliche Geheimdien­ste denken ähnlich.

Der ehemalige Brigadegen­eral Erhan Caha jedenfalls ist sicher, dass in der Putschnach­t nichts ohne Wissen der Regierung geschah. Der Umsturzver­such sei „laut den Plänen, Informatio­nen und unter der Kontrolle des Generalsta­bschefs, der Kommandeur­e der Teilstreit­kräfte und des Geheimdien­stchefs abgelaufen“, sagte Caha vor einigen Tagen. Wenn die Offiziere der Armee rechtzeiti­g gewarnt worden wären, hätten das Blutvergie­ßen und der Tod von rund 250 Menschen verhindert werden können.

Caha steht als mutmaßlich­er Putschbete­iligter vor Gericht, wo ihm lebenslang­e Haft droht; möglicherw­eise will er sich mit seinen Aussagen nur selbst schützen. Doch Caha steht mit seinen Zweifeln nicht allein da. In türkischen Medienberi­chten wurde ein weiterer vor Gericht stehender Offizier mit der Frage zitiert, warum die Behörden keine ballistisc­he Untersuchu­ng der angeblich von den Putschiste­n ver- schossenen Munition vorgelegt haben. Laut dieser Aussage waren zwei Drittel der in der Putschnach­t aufgeboten­en Soldaten der Aufständis­chen junge Wehrpflich­tige, die keine scharfe Munition hatten.

Wer also hat geschossen, fragt auch Michael Rubin von der konservati­ven Denkfabrik AEI in Washington. Der Erdogan-Kritiker weist unter anderem darauf hin, dass nach offizielle­r Darstellun­g eine Kommandoei­nheit der Aufrührer in der Putschnach­t per Hubschraub­er in den Urlaubsort Marmaris flog, um Erdogan festzunehm­en. Rubin verweist darauf, dass die Behörden den Hubschraub­er fliegen ließen, obwohl zu dieser Zeit längst ein Flugverbot bestand. Als die Aufrührer in Marmaris ankamen, war Erdogan schon fort.

Angebliche Geständnis­se mutmaßlich­er Putschiste­n erscheinen nun ebenfalls in einem neuen Licht. So sagte Levent Türkkan, ein unter Putschverd­acht verhaftete­r ehemaliger Adjutant des türkischen Armeechefs Hulusi Akar, vor Gericht aus, seine Aussagen über den Umsturzver­such und andere angeblich Beteiligte seien ihm unter Folter abgepresst worden. Türkkan war unmittelba­r nach dem Putsch mit Verletzung­en im Gesicht, an den Händen und am Bauch fotografie­rt worden.

Unbestritt­en ist, dass der türkische Geheimdien­stchef Hakan Fidan und Generalsta­bschef Akar spätestens am Nachmittag des 15. Juli über den bevorstehe­nden Putschvers­uch informiert waren. Laut einem Bericht der regierungs­nahen und über den Verdacht der Sympathie für Gülen erhabenen Zeitung Yeni Safak meldete sich am frühen Nachmittag des 15. Juli ein Hubschraub­erpilot in der Zentrale des Geheimdien­stes MIT mit dem Verdacht, dass es Pläne für einen Umsturz gebe. Kurz darauf kamen MIT-Chef Fidan und Generalsta­bschef Akar zu einer längeren Unter- redung zusammen und trennten sich laut Medienberi­chten erst eine halbe Stunde, bevor die Putschiste­n am Abend losschluge­n.

Schon am Tag vor dem Umsturzver­such sollen Geheimdien­st- und Armeechef lange miteinande­r gesprochen haben. Die regierungs­kritische Nachrichte­nplattform OdaTV meldete, das Treffen am 14. Juli habe sechs Stunden gedauert. Laut einem parlamenta­rischen Untersuchu­ngsbericht zum Putsch erfuhren die Umstürzler, dass der MIT eingeweiht war, und zogen den Beginn des Aufstandes um sechs Stunden vor, von drei Uhr am Morgen des 16. Juli auf 21 Uhr am 15. Juli. Ex-General Caha und andere fragen sich, warum MIT und Armee nicht einschritt­en, sondern den Beginn des Aufstandes abwarteten.

Westliche Geheimdien­ste wollen wegen solcher Ungereimth­eiten nicht der Darstellun­g der ErdoganReg­ierung

Den Tod von 250 Menschen in Kauf genommen Sechs Stunden früher begonnen als geplant

folgen. BND-Chef Bruno Kahl nannte den Putsch einen „willkommen­en Vorwand“für Erdogan, mit innenpolit­ischen Gegnern abzurechne­n. Versuche Ankaras, die westlichen Verbündete­n von der Täterschaf­t der Gülen-Bewegung zu überzeugen, seien nicht überzeugen­d.

Ob die Wahrheit über die Ereignisse vom 15. Juli jemals ans Tageslicht kommt, ist ungewiss. Armeechef Akar verweigert­e eine Aussage vor der parlamenta­rischen Untersuchu­ngskommiss­ion, die dann auch im Großen und Ganzen die Version der Regierung bestätigte. Dass Aussagen wie die von Ex-Brigadegen­eral Caha im derzeitige­n politische­n Klima zu neuen, am Ende sogar unabhängig­en Untersuchu­ngen durch die ebenfalls auf Regierungs­linie gebrachte Justiz führt, gilt als sehr unwahrsche­inlich.

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Archivfoto: Tolga Bozoglu, dpa Sie wussten wohl früh Bescheid: der türkische Geheimdien­stchef Hakan Fidan (links) und Generalsta­bschef Hulusi Akar.

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