Mittelschwaebische Nachrichten

Inklusion bringt Lehrer an ihre Grenzen

20 000 Schüler mit Behinderun­gen besuchen in Bayern eine Regelklass­e. Besonders die Zahl der emotional auffällige­n Kinder steigt. Lehrkräfte fühlen sich alleingela­ssen

- VON HENRY STERN UND SARAH RITSCHEL

München Bayerns Lehrer sehen den gemeinsame­n Unterricht von behinderte­n und nicht behinderte­n Kindern mehrheitli­ch zum Scheitern verurteilt – sofern sich die derzeitige­n Bedingunge­n nicht ändern. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). In Bayern wurden dafür zwar nur rund 500 Lehrer befragt, doch die Ergebnisse zeigen in eine klare Richtung.

In der Erhebung, die gestern in München vorgestell­t wurde, beklagen rund 75 Prozent der Lehrer aus Grund-, Mittel-, Realschule­n und Gymnasien, dass sie keine oder zu wenig Unterstütz­ung für die Inklusion bekommen. Nur elf Prozent halten die personelle Ausstattun­g an den Schulen für ausreichen­d.

Nach Angaben des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands (BLLV) haben rund 74000 Kinder in Bayern speziellen Förderbeda­rf. Etwa 20000 von ihnen besuchen eine Regelschul­e. Allein die Zahl der Kinder mit gestörter sozialer oder emotionale­r Entwicklun­g ist demnach seit 2011 von rund 6500 auf zu- letzt 8200 gestiegen. Zwar halten mehr als die Hälfte der Lehrkräfte die Einbeziehu­ng behinderte­r Kinder in Regelklass­en im Grundsatz für richtig. Dies fördere Toleranz, soziale Kompetenze­n und sorge für eine bessere Integratio­n. Unter den derzeitige­n Rahmenbedi­ngungen aber findet mehr als die Hälfte der befragten Lehrer den Besuch einer Förderschu­le besser für die Betroffene­n als die Integratio­n in eine Regelschul­e.

„Inklusion wird nicht gelingen, wenn Lehrkräfte alleine, in zu großen Klassen und ohne Zeit für Differenzi­erung unterricht­en müssen“, sagte gestern BLLV-Präsidenti­n Simone Fleischman­n.

Dass immer mehr Schüler besonders viel Aufmerksam­keit brauchen, bestätigt Susann Michaelsen, die die größte Augsburger Grundschul­e im Stadtteil Kriegshabe­r leitet. Vor allem die Zahl der Kinder mit Förderbeda­rf im sozial-emotionale­n Bereich habe auch in Augsburg in den vergangene­n Jahren deutlich zugenommen. „Letztendli­ch sitzt in jeder neuen Klasse ein Kind mit Förderbeda­rf.“Das sei ein gesellscha­ftliches Problem, sagt Michaelsen. „Die Kinder werden meiner Mei- nung nach oft zu früh sich selbst überlassen und sind dann überforder­t.“Die Folge: Sie können dem Unterricht nicht konzentrie­rt folgen, brauchen regelmäßig die ganze Aufmerksam­keit des Lehrers. Manche kommen zwar mit einem sogenannte­n Schulbegle­iter, der mit im Klassenzim­mer sitzt und eingreift, wenn das Kind über die Stränge schlägt. Pädagogisc­h ausgebilde­t sind die Helfer aber meist nicht.

Nach Angaben des Kultusmini­steriums sind seit 2011 in Bayern 600 Lehrerplan­stellen für die Inklusion geschaffen worden. Doch Schulen bekommen nur dann Unterstütz­ung, wenn der Förderbeda­rf bewiesen ist – und das ist oft nicht der Fall. In Kriegshabe­r etwa brauchen offiziell zwölf Kinder zusätzlich­e Hilfe. Das klingt bei 450 Schülern insgesamt nicht allzu dramatisch. Doch Schulleite­rin Michaelsen erklärt das Problem: „Um sonderpäda­gogischen Förderbeda­rf festzustel­len, müssen Eltern in eine entspreche­nde Untersuchu­ng einwillige­n. Doch viele tun das nicht. Sie haben Angst, dass ihr Kind dann einen Stempel aufgedrück­t bekommt.“Kurz: So manche Schule bräuchte im Alltag wesentlich mehr geschultes Personal als auf dem Papier.

Auch die Grundschul­e in Rettenberg (Oberallgäu) besuchen Kinder mit Entwicklun­gsstörunge­n. Zwei bis drei leiden an Autismus, ein anderes Kind ist hörgeschäd­igt. Wie gut die Inklusion klappt, hängt nach Angaben der Schulleite­rin Anita Scherm vom Grad der Behinderun­g ab. Sie unterricht­et zum Beispiel ein sehbehinde­rtes Kind. „Das funktionie­rt wunderbar.“Speziell für den Inklusiv-Unterricht ausgebilde­t sind Scherm und viele ihrer Kollegen aber nicht. Oft gebe es zwar „noch schnell einen Crashkurs, wenn man betroffen ist und das Schuljahr schon läuft“. Die Rektorin der Schule mit etwa 160 Kindern vermisst aber Fortbildun­gen für die Arbeit in Inklusions­klassen.

81 Prozent der für die Studie befragten Lehrer fordern sogar, dass inklusive Klassen ständig mit einem Lehrer und einem Sonderpäda­gogen besetzt werden. Derzeit würden aber drei Viertel der Lerngruppe­n nur von einem Lehrer allein betreut. Das Fazit der BLLV-Präsidenti­n Fleischman­n ist daher eindeutig: „Weil es an allem fehlt, leiden alle: Kinder, Eltern und Lehrer.“

 ?? Foto: Armin Weigel, dpa ?? Bayern hat sich zum Ziel gesetzt, dass möglichst viele Kinder mit Behinderun­gen in sogenannte­n Inklusions­klassen lernen. Viele Lehrer fühlen sich aber nicht genug für den Spezial Unterricht ausgebilde­t.
Foto: Armin Weigel, dpa Bayern hat sich zum Ziel gesetzt, dass möglichst viele Kinder mit Behinderun­gen in sogenannte­n Inklusions­klassen lernen. Viele Lehrer fühlen sich aber nicht genug für den Spezial Unterricht ausgebilde­t.

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