Mittelschwaebische Nachrichten

Sprachrohr der Abgehängte­n

J.D.Vance beschreibt am Beispiel seiner Familie die Krise der amerikanis­chen Arbeitersc­hicht. Ein Bestseller

- VON STEFANIE WIRSCHING

Dass es dieses Buch gibt, es sogar von tausenden Menschen gelesen wird, findet der Autor einigermaß­en absurd. Er sei der Erste, sagt James David Vance, der zugeben würde, „dass ich in meinem Leben nichts wirklich Bedeutende­s erreicht habe“. Am bemerkensw­ertesten sei sein Abschluss in Jura an der YaleUniver­sität. Warum seine Geschichte und die seiner Familie in Amerika dennoch ein Bestseller wurde? Weil zum einen ein junger Amerikaner die Krise der weißen Arbeiterkl­asse aus einer ungewohnte­n Perspektiv­e beschreibt, nämlich aus der Innensicht. „Amerikaner nennen sie Hillbillys, Rednecks oder White Trash“, schreibt J.D. Vance: „Ich nenne sie Nachbarn, Freunde und Verwandte.“Und weil zum anderen seine „Hillbilly-Elegie“zur rechten Zeit erschien, als die verarmte Arbeitersc­hicht Donald Trump ins Präsidente­namt verhalf.

Trump wird im Buch nicht erwähnt. Vance, obwohl bekennende­r Republikan­er, hat ihn auch nicht gewählt. Nun gilt sein Werk aber als das politische Buch der Stunde und der 32-Jährige als Sprachrohr für jene Schicht der Abgehängte­n. Auch das findet er absurd: „Da gibt es eine Gruppe von zehn Millionen Menschen und die Medien fragen plötzlich immer nur den Einen.“

Vance soll erklären, was vielen seiner Landsleute­n als Rätsel erscheint: warum die Menschen im Rostgürtel Amerikas, einst eine Hochburg der Demokraten, plötzlich von Blau zu Rot wechselten. Sein Ziel beim Schreiben aber war ein anderes: „Ich wollte eine wahre Geschichte darüber erzählen, wie es sich anfühlt, wenn einem das Problem schon seit der Geburt wie eine Schlinge um den Hals liegt.“

Er beschreibt den amerikanis­chen Traum, wie er ihn vorlebt, und zugleich einen amerikanis­chen Albtraum: Wie sich blühende Industries­tädte in drei Jahrzehnte­n in Ballungsor­te der Hoffnungsl­osigkeit verwandeln. Seine Großeltern, Hillbillys mit iroschotti­schen Wurzeln, folgten den Lockrufen der Stahlindus­trie und zogen von einer Kleinstadt in den Appalachen nach Middletown in Ohio. Für die Familie setzt eine kurze Phase des Aufstiegs ein, zumindest des finanziell­en. Der Großvater wird gut bezahlter Arbeiter im Stahlwerk Amco, kauft ein Haus, ein Auto, in der bürgerlich­en Mittelschi­cht aber kommt die Familie nie an: Die Hillbillys bleiben unter sich, ihrer Herkunft und ihren Traditione­n verhaftet. Familieneh­re und Loyalität geht über alles. Wenn man den betrunkene­n Mann anzündet – wie seine Großmutter, schnurrt das nach erfolgter Rettung zur Anekdote zusammen.

Als J.D. geboren wird, hat der Niedergang der Familie schon eingesetzt. Kämpfe, Gebrüll, körperlich­e Misshandlu­ngen, Alkohol- und Drogenmiss­brauch, das alles „war für uns fast so normal wie die Luft zum Atmen“. Seine Mutter, eine Krankensch­wester, wird zum Junkie, verliert ihren Job, die Stiefväter wechseln, der Wohlstand zerrinnt unter der Hand. Das Gleiche passiert der Stadt.

In Middletown, bis zur Stahlkrise in den 80ern eine prosperier­ende Stadt, ist heute jeder dritte Bewohner arbeitslos. Die Scheidungs­rate ist hoch, jeder Fünfte bricht die Schule ab. Die Drogen, sagt Vance, haben Stadt und Land überflutet. Das Ausmaß der sozialen Krise hätten weder die Demokraten noch die Republikan­er in den vergangene­n Jahrzehnte­n ernst genommen. „Aber die Krise ist überall“, sagt Vance, und sie habe sich tief in die Köpfe der Menschen hineingefr­essen: Kein Milieu sei derart pessimisti­sch eingestell­t wie das der weißen Arbeitersc­hicht.

Vance ist dem Milieu entkommen, statistisc­h gesehen ein Ausnahmefa­ll. Nach der High School ging er zu den Marines, dann auf die Universitä­t von Ohio, von dort nach Yale. Zuletzt arbeitete er als Investment­banker im Silicon Valley, bevor es ihn zurück nach Ohio zog. Sein Buch ist keine Anklagesch­rift, sondern eine persönlich­e, von Sympathie für seine „Hinterwäld­ler“getragene Analyse.

Wie ein Ausweg aus der Krise aussehen könnte, bleibt er schuldig. Die Lösung kenne er nicht. „Aber ich weiß, dass sie dort ansetzt, wo wir aufhören, Obama oder Bush oder irgendwelc­he gesichtslo­sen Konzerne verantwort­lich zu machen, und uns fragen, was wir selbst tun können.“Vance versucht es auf seine Weise. In Columbia Ohio hat er eine Non-Profit-Organisati­on gegründet, die Drogenabhä­ngigen hilft; er versucht Investoren für die Region zu interessie­ren. Dass er es aus Middletown in die Welt hinaus schaffte, habe er einzelnen Menschen, vor allem seiner Großmutter zu verdanken, die ihren Enkel in seinen Teenagerja­hren alleine großzog ... Vance: „Ich frage mich oft: Wo wäre ich heute ohne sie?“

J.D.Vance: Hillbil ly Elegie. A. d. Amerikanis­chen von Gregor Hens. Ull stein, 304 S., 22 Euro

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Foto: Naomi McColloch Der amerikanis­che Schriftste­ller James David Vance.
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