Mittelschwaebische Nachrichten
Wir Schneiders bei den Berbern
Eine Trekking-Tour mit der ganzen Familie in Marokko – ist das nicht gefährlich?
Keine vier Flugstunden liegen zwischen München und Marrakesch, und wir haben den Kontinent gewechselt, das Klima, die Kultur. Und keine 20 Minuten Busfahrt vom Flughafen, und wir stehen mitten auf dem Djemaa al-Fna. Auf diesem riesigen Platz, auf dem seit Jahrhunderten jeden Abend ein Spektakel stattfindet, das den Markt in die Unesco-Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“gebracht hat. Die Augen gehen uns über: Feuerschlucker, Trommler, Schlangenbeschwörer, Märchenerzähler, Köche und Getränkehändler. Tausendundeine Nacht.
So quirlig und bunt wie dieser ewige Jahrmarkt ist die Altstadt auch bei Tageslicht: Durch die engen Gassen der Medina eilen Männer, Frauen und Kinder, knattern Mopeds, kurven Radler, bahnen sich Eselskarren ihren Weg. Die Frauen tragen Tschador, manche aber auch nur Kopftuch. Unbehelligt von den Händlern schlendern wir im Souk von Stand zu Stand. Eine Rucksackreise mit der ganzen Familie quer durch Marokko? Das sorgte im Vorfeld für Bedenken. Ist das nicht gefährlich?
Ob wir Berber-Whisky möchten, fragt uns der Angestellte im Riad, einer traditionellen Unterkunft in der Medina von Marrakesch. Das halten wir tatsächlich für bedenklich und winken ab. Nein danke, nicht am Morgen. Und schon gar nicht für die Kinder. Der junge Mann lächelt verschmitzt und klärt uns auf: Berber-Whisky ist ein stark gesüßter Minztee, das Nationalgetränk in Marokko. Sehr lecker – noch eine Tasse bitte!
Wir lassen das bunte Treiben der fast 1000 Jahre alten Stadt hinter uns und nehmen ein Taxi zum Busbahnhof. Die Fahrt Richtung Hoher Atlas führt durch einsame Steinwüsten, über kurvige Straßen bergauf und bergab, an Felslandschaften vor schneebedeckten Gipfeln vorbei. Im Tal üppige Oasen, Palmenhaine, sattgrüne Felde. Und das in einem Wüstenland. Dazu unzählige dieser imposanten Lehmburgen, in denen früher die Stammesfürsten residierten und ihre Untertanen Zuflucht bei Überfällen fanden. Wir erreichen Boumalne auf der „Straße der tausend Kasbahs“und schauen uns nach einem Taxi um. Unsere Unterkunft liegt weit drinnen im Dadestal.
„Andrea?“Ein junger Kerl im traditionellen Berber-Outfit schaut mich fragend an. Er sei Amqrane vom Maison d’Hotes Restaurant Chez L’Habitant Amazigh. Dort haben wir zwei Übernachtungen gebucht und hatten angekündigt, dass wir mit dem Bus aus Marrakesch kommen werden. Klar, dass er uns abhole, erklärt er, zurrt die Rucksäcke auf dem Jeep-Dach fest, bringt unsere Jüngsten auf den Notsitzen im Kofferraum unter und hält uns die Türen auf. So gastfreundlich wie Amqrane nimmt uns die gesamte Familie Tair in ihrer einfachen, aber gemütlichen Pension auf. Im Esszimmer prasselt das Kaminfeuer, und wir setzen uns dankbar davor. Es ist kalt geworden, und die übrigen Zimmer im Haus sind unbeheizt. In der Küche bereiten die Frauen des Hauses das Abendessen vor, Vater Zaid setzt sich zu uns und erzählt von der Geschichte der Berber, die seit mehreren 1000 Jahren in Nordafrika leben, lange bevor Eroberer in das heutige Marokko vordrangen. Die Vandalen bezeichneten sie im 5. Jahrhundert als „Barbaren“, daraus wurde „Berber“. Sie selbst aber, so erklärt uns Zaid, nennen sich lieber „Amazigh“, was so viel bedeutet wie „freier Mensch“.
Berber, erfahren wir, waren Anhänger von Naturreligionen, mit der Eroberung Marokkos durch die Araber wurden sie aber gezwungen, zum Islam zu konvertierten. Sie lehnten sich gegen die neuen Herren auf, behielten ihre Traditionen bei. Trotzdem drohte die Berber-Kultur zu verschwinden – vor allem mit der Unabhängigkeit 1956 und der Bildung eines zentralistischen Staates. Die Berber mit ihrer Sprache Tamazight galten als rückständig. Erst König Mohammed VI. rehabilitierte sie: Laut der neuen Verfassung von 2011 sind die Berber fester Bestandteil der marokkanischen Identität, ihre Sprache ist neben Arabisch offizielle Landessprache. Ganz zufrieden ist Zaid damit noch nicht. „Es bleibt trotzdem noch viel zu tun“, sagt der Berber-Aktivist. Viele Berber leben in Armut. Die Jungen wandern in die Städte ab und verlieren ihre Kultur, ihre Sprache und die Lebensweise. „Und genau das ist fatal“, redet sich Zaid fast in Rage, „denn unsere Werte sind jetzt wichtiger als je zuvor. Wir Berber haben den radikalen Islam immer abgelehnt, Religion und Staat getrennt und treten für die Gleichheit zwischen Mann und Frau ein.“Als Zaids Frau und seine Schwiegertöchter die Speisen auftragen, merken wir erst, wie schnell die Zeit vergangen ist. Spannender kann man Geschichte nicht lernen. Und nach dem Abendessen versammelt sich die gesamte Familie Tair in traditioneller Tracht, singt und trommelt bis tief in die Nacht hinein.
Am nächsten Tag fährt Amqrane uns durch das Dades- und Todratal, hinein in das saftig grüne Rosental und zu Beduinen, die seit jeher in Höhlen leben und ihre Kinder hier großgezogen haben. Sie bieten uns Minztee an, gekocht auf dem offenen Feuer, das sich von Schafskot nährt. Über die Schlichtheit dieses Lebens staunen wir, erst recht über die Zufriedenheit, die diese Menschen ausstrahlen. Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir die Auberge und spazieren in das gegenüberliegende trockene Flusstal. Der Vollmond steht schon über dem wellenförmigen Gebirge, die Sonne taucht die Steinwüste in die unterschiedlichsten Pastell- und Rottöne. Eindrücke, die selbst eine sechsköpfige Familie verstummen lassen.
Endstation Sahara. Wir haben das kleine Dorf M’hamid erreicht und steigen spät am Abend aus dem Bus. Gleich begrüßt uns M’barek von der Auberge Kasbah Dar Sahara Tours. Mit ihm werden wir in die Wüste ziehen. Ob wir denn unbedingt zum Erg Chegaga möchten, fragt er zweifelnd. Die Sandwüste habe zwar die höchsten Dünen, aber eben auch sehr viele Touristen in einem organisierten Camp. Viel schöner sei eine Tour auf eigene Faust – mit eigenem Zelt, Lagerfeuer und Sonnenuntergang nur für uns alleine. Mehr braucht er nicht zu sagen – das ist genau das Richtige. Vor allem ist M’barek der Richtige, denn einen besseren Guide für die Wüste hätten wir nicht finden können.
Die Kamele stehen am nächsten Morgen schon bereit. Der Tross setzt sich mit drei Kamelführern in Bewegung. M’barek bepackt derweil den Jeep. Wir reiten hinein in die endlose Sandwüste und machen an einer einsamen Palme Halt. Wie aus dem Nichts taucht M’barek am Horizont auf – mit seinen Freunden Hassan und Caid als Reisebegleiter. Und wie aus dem Nichts zaubern die drei Männer ein dreigängiges Menü. Inbrünstig zelebriert unser Guide die Tee-Zeremonie, das mehrmalige Hin- und Hergießen von Kanne zu Tasse und zurück. Er hebt das Glas, prostet uns zu „B’seha!“– und fängt zu erzählen an: Sein Großvater war ein echter Nomade, er hat das ganze Leben in der Wüste verbracht. Sein Vater das halbe, bevor er wie viele andere Nomaden mit Ankunft der Touristen in M’hamid sesshaft wurde. Und M’barek? Er sei eben ein moderner Beduine, mit Handy und Geschäftssinn. Sein Herz aber schlägt für die Wüste, hier ist er zu Hause.
Wir tauschen Kamelrücken gegen Autositz, und weiter geht der Trip, aus den Boxen tönt laute TuaregMusik. Hin und wieder versackt der Jeep im Sand. Alle Mann raus zum Schieben. Feuerholz? Müssen wir noch fällen. In der Wüste? Kein Problem. Wie entspannt unsere Guides diesen Trip gestalten, das fasziniert uns. Die dürren Tamarisken, typische Saharabäume, haben wir nicht einmal wahrgenommen. Ein Seil um den Stamm und am Jeep festgemacht, losfahren, und schon ist der Baum gefällt. Wir fahren „querfeldein“ohne jegliche Piste. Woran sich unsere Guides orientieren? Das erfahren wir nicht, erreichen aber das Ziel. Schnell, da rauf auf die Düne, die Sonne geht gleich unter. Und wieder wird es ganz still.
Was für ein Naturschauspiel – die ganze Sahara uns zu Füßen. Vom Lager steigt schon Rauch auf, M’barek, Hassan und Caid sind fleißig gewesen. Das Nomadenzelt steht, der Tee ist angerichtet. „B’seha!“, prostet uns M’barek zu und verschwindet im Zelt. Dann trägt er das Abendessen auf: Traditionelle Harira-Suppe, Lammspieße mit Couscous und Gemüse in der Tajine. Dazu Fladenbrot, ganz frisch. M’barek backt es hier und jetzt im Saharasand. Wir kommen aus dem Staunen nicht raus. Der Guide knetet den Teig in den erhitzten Sand am Lagerfeuer und deckt ihn mit der Glut des Feuers zu. Keine zehn Minuten später holt er das fertige Brot hervor, klopft den Sand ab. Bitteschön. Nachts um halb zehn mitten in der Sahara. Ja, M’barek ist Beduine, mit Leib und Seele. An Schlafen denkt er noch lange nicht. Auch wenn unseren Jüngsten die Augen zufallen. Mit Gitarre und Trommeln setzen sich unsere Begleiter ums Feuer, machen Musik.
Dieses Land kennenzulernen hat sich gelohnt. Noch mehr die Menschen mit ihren Geschichten und Traditionen. Und gefährlich war es überhaupt nicht!
Die gesamte Familie versammelt sich in Tracht und singt die ganze Nacht