Mittelschwaebische Nachrichten

In jedem Kind steckt ein Kant

Philosophi­eren mit Grundschül­ern – das geht. Wie Lehrer mit ihren Klassen dem „Warum“auf den Grund gehen

- VON SABRINA SCHATZ

Augsburg Kinder löchern Erwachsene mit tausend Fragen: Können Blumen glücklich sein? Was macht die Oma im Himmel? Wer entscheide­t, was Schönheit ist? Versuchen Mutter und Vater, ihre Sprössling­e mit simplen Antworten abzuspeise­n, folgt prompt: „Aber warum?“Gut so, findet Margit Vogt. Sie ist Rektorin an der Johann-StraußGrun­dschule in Augsburg: „Kinder sind neugierig, sie können staunen. Das ist das Handwerksz­eug eines Philosophe­n.“

Vogt und ihre Kollegen haben Philosophi­e auf den Stundenpla­n der Grundschül­er gesetzt – eine Disziplin, die selbst belesenen Studenten einiges Kopfzerbre­chen abverlangt. Wie verstehen Sechs- bis Zehnjährig­e Sinnfragen, mit denen sich große Denker über Jahre hinweg beschäftig­t haben?

Wenn Kinder philosophi­eren, dann lernen sie nicht von Sokrates, Kant oder Hobbes. Sie befassen sich nicht mit Ideengesch­ichte, sondern diskutiere­n eigene Gedanken – auch wenn sie keine Lösung für die großen Fragen der Welt finden. „Philosophi­e erfordert keine Antwort, sondern ein Gespräch. Es gibt kein Richtig oder Falsch“, erklärt Vogt. Dies ist in der Schule unüblich: Mathe, Englisch, Erdkunde – in den meisten Fächern sind Antworten eindeutig zu bewerten.

Lange Zeit war die Philosophi­e ein Fachbereic­h, dem sich nur Erwachsene gewidmet haben. 2007 hat die Deutsche Unesco-Kommission empfohlen, Kindern einen besseren Zugang zum Thema zu verschaffe­n. Sie veröffentl­ichte eine Studie, welche die Bildungsma­ßnahmen verschiede­ner Nationen verglich: Deutschlan­d hinkte Ländern wie den USA hinterher. Zeitgleich startete die Stadt Augsburg ein Modellproj­ekt in Kooperatio­n mit der Akademie „Kinder philosophi­eren“: Erzieher und Lehrer schulten sich darin, Themen kindgerech­t zu gestalten, und trafen sich zu gemeinsame­n Philosophi­erunden. Darunter auch Vogt und drei ihrer Kolleginne­n.

Nun, zehn Jahre später, ist die Philosophi­e im sogenannte­n Lehrplan Plus der Grundschul­en verankert. „Das zeigt, dass die Bemühungen gefruchtet haben“, sagt die Rektorin. Philosophi­e hat ihren Platz im Fach Ethik bekommen, das zwar nicht Pflicht ist, aber viele Eltern anstelle von Religionsu­nterricht für ihre Kinder wählen. Jedoch gibt es auch Schnittpun­kte mit anderen Fächern: Im Heimat- und Sachkundeu­nterricht können Lehrer etwa die Frage stellen „Wem gehört die Welt?“, in Mathematik „Ist sieben viel?“

Wie die Kinder auf solche Fragen reagieren, wissen die Lehrer vorher nicht. Auch für sie birgt eine philosophi­sche Unterricht­seinheit Überraschu­ngen. Sie überlegen sich daher: Was kann passieren? Welche Impulse kann ich liefern, damit die Kinder zum Thema finden? Vogt und ihre Kolleginne­n nutzen etwa Bilderbüch­er (siehe Infokasten) als Impuls oder einen Gedankenba­ll – wer diesen hält, hat das Wort. „In den Gesprächen gibt es klare Regeln. Der Lehrer moderiert, hält sich aber zurück“, sagt die 53-Jährige. Er müsse jede Antwort ernst nehmen und dürfe diese nicht bewerten. Noten könnte er – wenn, dann für die Gesprächst­echnik – geben. Er achte also darauf, ob ein Kind zuhört und auf andere eingeht. Ob es sich am Gespräch beteiligt, sei nachrangig – manche Themen, etwa der Tod, seien schwierig. Nicht jeder Schüler möchte etwas dazu sagen.

Wenn diese Rahmenbedi­ngungen eingehalte­n werden, öffnen sich Kinder. „Es ist erstaunlic­h, was für tiefsinnig­e Gedanken sie mit sich herumtrage­n“, sagt Vogt und nennt als Beispiel das Thema Wut. Die Kinder nutzten Eindrücke aus ihrer persönlich­en Lebenswelt, um das Gefühl in Worte zu fassen: Bei manchen hat Wut die Farbe Gelb, bei anderen sitzt sie in der Bauchgrube oder kommt als Monster aus einem Versteck. „Kinder sind gute Philosophe­n, weil sie ihre Antwort nicht von vornherein interpreti­eren“, sagt Vogt. Für sie stehe nicht die Antwort im Mittelpunk­t, sondern die Frage.

Was der Unterricht bringt? „Die Kinder lernen, was Toleranz und Empathie bedeutet. Sie verbessern ihre Kommunikat­ionsfähigk­eit, indem sie argumentie­ren und auch mal die Perspektiv­e wechseln“, sagt Vogt. Auch Werte und Demokratie erlebten die Schüler auf diese Weise.

Welche Farbe hat Wut?

 ?? Symbolbild: Frank Rumpenhors­t, dpa ?? Viele Lehrer nutzen einen Sitzkreis, wenn sie mit Kindern philosophi­eren. Niemand soll dabei im Mittelpunk­t stehen.
Symbolbild: Frank Rumpenhors­t, dpa Viele Lehrer nutzen einen Sitzkreis, wenn sie mit Kindern philosophi­eren. Niemand soll dabei im Mittelpunk­t stehen.

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