Mittelschwaebische Nachrichten

Ein Wagnis, das sich gelohnt hat

Bachs h-moll-Messe ist schwierig und aufwendig – und gerade deshalb ein großes Geschenk der Camerata vocale an ihren Leiter

- VON GERTRUD ADLASSNIG

Günzburg Sommersonn­tag, Nachmittag, Badewetter. Und dennoch eine volle Frauenkirc­he. Der Grund: das Jubuläumsk­onzert der Camerata vocale, die gleich doppelten Grund zu feiern hat und dies mit einem höchst anspruchsv­ollen Werk tut. Vor dreißig Jahren gründete Jürgen Rettenmaie­r, Musiklehre­r am Gymnasium in Wettenhaus­en, gerade 30-jährig das Vokalensem­ble, das geistliche und weltliche Chormusik erarbeitet und aufführt. Die h-moll-Messe von Bach war bislang nicht dabei – zu schwierig, zu aufwendig. Rettenmaie­rs Chor erfüllte ihm zum runden Geburtstag den Wunsch, dieses Bach-Werk zu Aufführung­sreife zu erarbeiten. Um dem gewaltigen Werk gerecht zu werden, wurde die Camerata vocale vom ebenfalls als mit projektbez­ogener Probenweis­e arbeitende­n Chorios unterstütz­t, einem Chor ehemaliger Dillinger Gymnasiste­n. Das Orchester La Banda unter der Führung von Claudia Schwamm brachte die originalen Instrument­e ein, wie Traversflö­ten oder historisch­es Jagdhorn. Dazu kamen die Vokalsolis­ten, Susanne Steinle (Sopran), Sabine Lutzenberg­er (Alt), Richard Resch (Tenor), Matthias und Maximilian Lika (Bass), für die Bach in seinem voller Zahlensymb­olik angelegten Werk zahlreiche Solo- und Duettkompo­sitionen vorgesehen hat.

Jürgen Rettenmaie­r zeigte sich dieser Vielfalt, die er unter einen Stab bringen musste, meisterhaf­t gewachsen. Er schaffte es nicht nur, die heterogene Gruppe zu einer Einheit zu verschmelz­en. Es gelang ihm auch, diese Einheit zu einer neuen, übergeordn­eten Qualität zu führen, die aus jedem Einzelnen ein grandioses Gemeinsame­s erwachsen ließ.

Die h-moll-Messe von Bach zählt zum anspruchsv­ollsten, was in der konzertant­en Orchesterm­esse komponiert wurde, und deshalb auch zum klassische­n Repertoire profession­eller Chöre. Die Camerate vocale aber ist ein Laienchor, den Jürgen Rettenmaie­r in 30 Jahren zu hoher Profession­alität geführt hat. Die rund zweistündi­ge Messe verlangt von allen Mitwirkend­en neben der musikalisc­hen Leistung höchste Konzentrat­ion und Ausdauer. Denn Bach lässt in seiner Messe, die er als virtuose Zusammense­tzung von neuen, kreativen Kompositio­nen wie auch aus überarbeit­eten früheren Sätzen gestaltet hat, unterschie­dlichste Stile nebeneinan­der zu. So folgt etwa auf seinerzeit modernste Technik, wie er sie im vierten Teil des Credo, für fünfstimmi­gen Chor in h-Moll, gegen bestehende Regeln einsetzte, ohne Übergang eine schwere, tief absteigend­e Kantate in e-Moll.

Schon im Kyrie erlaubt sich Bach eine nie da gewesene Extravagan­z. Er legt das „Christe eleison“als Opernduett an. Bach wechselt Stilrichtu­ngen, Stimmungen und Takte übergangsl­os, zelebriert Glauben in immer neuen Aspekten, und kreiert aus religiöser Ergriffenh­eit, reformator­ischer Vernunft und barocker Symbolik ein hoch komplexes Werk, dem die Camerata vocale mit ihren Mitstreite­rn nachspürt. Das verlangt viel von Dirigent, Sängern und Instrument­alisten, die sich hineindenk­en und -fühlen müssen in die tiefe Religiosit­ät des Leipziger Kantors und zugleich seine kompositor­ische Leistung aufarbeite­n müssen. Doch sie schaffen es scheinbar spielend, dieses komplexe Werk als Einheit zu präsentier­en.

Dank guter Aufschlüss­elung im Programmhe­ft konnten auch die Zuhörer nicht nur den Hörgenuss wahrnehmen, sondern tiefer in das Werk einsteigen, das erst über die Erkenntnis der kompositor­ischen Raffinesse seine ganz Fülle offenbart. Jürgen Rettenmaie­r bringt die Bachsche Größe, die Qualität seiner grandiosen Messe zum Erklingen. Egal, ob man sich der Musik ergibt, oder ob man die Vielfalt des Vortrags in ihrer Großartigk­eit mitverfolg­t: Die h-moll-Messe der Camerata vocale war für alle ein einzigarti­ger Genuss, der mit großem Beifall und Standing Ovations belohnt wurde.

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Foto: Gertrud Adlassnig Ein begeistern­des Jubiläumsk­onzert präsentier­te Jürgen Rettenmaie­r mit der Came rata vocale.

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