Mittelschwaebische Nachrichten
Leute machen Kleider
Seit 100 Jahren gibt es den Reißverschluss. Die Modewelt wäre ohne ihn nicht vorstellbar. Gerade jetzt. Denn Millionen Deutsche haben wieder Spaß am Nähen, Häkeln und Stricken. Warum Handarbeit hip ist und wir uns danach sehnen, den schönsten Knopf der We
Rosa Einhörner galoppieren über den weichen Jerseystoff. Im Regal daneben segelt ein blauer Dreimaster über die feine, wellige Baumwolle. Und wenige Zentimeter weiter schwirrt ein grün-gelber Kolibri zwischen großen Blumen auf einer glänzenden Stoffbahn umher. Fast bis zur Decke reicht das Regal in der „Nadelkiste“in Donauwörth, einem Kurzwarenladen, der mit seinen Stoffen in allen Formen und Farben die Kreativität beflügelt. In der Fantasie entstehen gerüschte Sommerkleider und frottige Babylätzchen, flauschige Sofakissen und hippe Abendtäschchen. Inmitten dieser Welt aus Mustern und Farben steht Jenny Scharff, die Chefin der „Nadelkiste“.
Die 29-Jährige ist umgeben von Wollknäueln und Schnittmustern, Nadeln und Garnen, dicken Sweatshirtstoffen, federleichter Viskose und jeder Menge Reißverschlüsse, roten, schwarzen und weißen, mit Anhängern aus goldenem Metall oder Plastik. Allein der Zipper ist ein Stück Textilgeschichte. Vor 100 Jahren, im Frühling 1917, wurde in den USA das Patent für den Reißverschluss angemeldet. Ohne ihn wäre die Modewelt nicht vorstellbar. Gerade jetzt nicht.
Denn in Deutschland ist ein wahrer Handarbeitsboom ausgebrochen. Noch vor einigen Jahren haftete Läden wie der „Nadelkiste“ eine dezente Biederkeit an. Von diesem verstaubten Image haben sich die Geschäfte aber längst befreit. Millionen Menschen im Land stricken und sticken, nähen und häkeln. „Selbermachen ist momentan der absolute Renner. Man will nicht mehr nur den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen, sondern etwas Kreatives machen“, sagt Jenny Scharff, die den Kurzwarenladen vor einem Jahr von ihrer Mutter übernommen hat. Das Nähen hat sie sich selbst beigebracht. Dem Videoportal Youtube sei dank.
Die Umsätze in der Handarbeitsbranche sind in den vergangenen Jahren enorm nach oben geschnellt. Nach Angaben des Branchenverbandes „Initiative Handarbeit“haben die deutschen Verbraucher im Jahr 2015 1,28 Milliarden Euro für den Spaß am Selbermachen ausgegeben. Allein im Bereich Stoffe gab es im Vergleich zu 2014 einen Zuwachs um sechs Prozent auf 475 Millionen Euro. Dass die Zahl der Nähfans immer größer wird, lässt sich auch an den Verkäufen von Nähmaschinen ablesen. Die sind um acht Prozent gestiegen und spülten 163 Millionen Euro in die Kassen. 18,6 Millionen Deutsche nähen, stricken oder häkeln regelmäßig in ihrer Freizeit, hat eine aktuelle Verbrauchsund Medienanalyse ergeben. Das sind 1,6 Millionen Menschen mehr als noch 2013.
Ein Ort, an dem dieser Trend greifbar wird, ist das Atelier „Madam Tamtam“in der Augsburger Altstadt. Hier sitzen an einem Frühlingsabend sechs Frauen vor großen weißen Nähmaschinen, fertigen aus zarten lilafarbenen Stoffteilen Kleideroberteile, nähen gerüschte Volants an, schneiden Stoffe zu, bügeln und stecken ab. „Kaufen kann ja jeder“, sagt Diana Schulze. Sie geht an einen großen Tisch und breitet den grauen Stoff vor sich aus, aus dem einmal ein Rock entstehen wird. Ihre Leidenschaft für die Handarbeit hat mit hässlichen Vorhängen in ihrem Wohnwagen angefangen. Weil ihr die nicht gefielen, schneiderte sie kurzum selbst welche.
Inmitten des Raumes mit den hellen Holzfußböden, den taupefarbenen Wänden und den weißen Stüh- len mit den rosafarbenen Polstern steht Rebecca Bilger, eine große schlanke Frau mit kurzen braunen Haaren und einer randlosen Brille. Sie zeigt den sechs Kursteilnehmerinnen, wie sie einen Reißverschluss einnähen, störende Falten rausbügeln und eine falsche Naht wieder auftrennen. Bilger ist gelernte Modedesignerin und hat eine Schneiderausbildung gemacht. Bevor sie nach Augsburg kam, lebte sie in Wien und kreierte dort Kostüme fürs Theater. „Ich glaube, dass sich so viele Menschen fürs Nähen interessieren, weil sie etwas abseits des Mainstreams haben wollen. Und einen Ausgleich zum Bürojob. Nähen ist das neue Yoga“, sagt Bilger.
Warum so viele Menschen lieber selbst zu Nadel und Faden greifen, statt sich Klamotten von der Stange zu kaufen, damit beschäftigt sich auch der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann. „Der Nähtrend ist ein klarer Retrotrend. Wir sind immer mehr in eine virtuelle, schnelle Welt integriert und sehnen uns wieder nach reellen Dingen“, sagt Wippermann, der eine Analyse zum Handarbeitsboom erstellt hat. Der Nähtrend ist also eine Bewegung zurück, das Besinnen auf vorherige Traditionen. Wippermann glaubt, dass sich dieser Trend noch weiter aufbauen wird – und zwar nicht nur in der Mode. Schon jetzt habe der Rückbesinnungs-Enthusiasmus andere Bereiche erschlossen, etwa die Gastronomie. „Vor einigen Jahren hat man noch vermehrt Kapselkaffee getrunken. Jetzt schwört man wieder auf Filterkaffee“, sagt Wippermann.
In manchen Kreisen waren Häkeln und Stricken ursprünglich ein politisches Statement der Grünen. Heute indes ist es keine inhaltliche Protesthaltung mehr. „Die Menschen machen das einfach, um glücklich zu sein“, sagt Wippermann. „Und dabei geht es eben nicht um das Rationalisieren von Zeit, sondern darum, den schönsten Knopf der Welt zu finden.“
Den bekommt man in Läden wie der Donauwörther „Nadelkiste“. Direkt am Fenster steht ein großer Ständer mit hunderten Knöpfen in allen Formen und Farben: rote, die wie Äpfel aussehen, rustikale Trachtenknöpfe mit einem Hirschen drauf, blaue Herzchen und winzig kleine Knöpfe, die in den Farben des Regenbogens glitzern. Inhaberin Jenny Scharff dreht den Knopfständer im Kreis. Das weiche Licht, das durch die großen Fensterfronten in den Laden fällt, lässt ihr dunkelbraunes lockiges Haar sanft glänzen. Klamotten und Accessoires selbst herzustellen ist ihrer Meinung nach vor allem eines: eine Gegenbewegung zur modernen Wegwerfgesellschaft.
Socken stopft heute kaum mehr jemand. Blusen mit kleinen Löchern, Hemden mit hartnäckigen Flecken, Jacken mit kaputten Reißverschlüssen oder Taschen mit abgerissenen Riemen landen schnell im Müll. Gleichzeitig werden die Modeketten in den Innenstädten überschwemmt mit billigen T-Shirts für fünf Euro das Stück. So langsam fangen die Konsumenten nun aber an, sich mehr Gedanken zu machen. Viele Menschen leben bewusster. Und wollen keinen Pullover, in dem „Made in Bangladesch“steht, glaubt Jenny Scharff.
Das gelte vor allem für die junge Generation ab Mitte 20. In diesem Alter, sagt sie, fange das Interesse fürs Nähen und Stricken meist an. Für die Älteren ist der Griff zur Nadel indes keine Lifestyle-Attitüde. Nach dem Krieg war die Not so groß, dass es völlig normal war, Socken und Unterhosen zu stopfen. Und noch immer kommen Senioren in ihr Geschäft, die nach Stopfgarn fragen, erzählt Scharff. Dann dreht sie sich um, geht nach hinten in den Laden, zeigt, was die bunte Selbstmach-Welt noch so alles bereithält: dicke Garne und BH-Verschlüsse, tunesische Häkelnadeln, Fingerhüte und natürlich Reißverschlüsse.
Auch das Kleid von Britta Schal- ler soll, wenn es einmal fertig ist, mit einem Reißverschluss geschlossen werden. Sie ist eine von sechs Schülerinnen, die an diesem Abend im Augsburger Atelier „Madam Tamtam“den Nähkurs besuchen. Der warme Frühlingswind dringt durch die offene Tür und lässt den rotgrau-blauen Stoff mit Paisley-Muster, den Schaller auf ihrem Schoß liegen hat, sanft flattern. Auf den Tischen stehen kleine Döschen mit Stecknadeln und Gläser, in denen perlender Prosecco schäumt. „In einer netten Runde was für mich selbst zu machen, das ist für mich Entspannung pur“, sagt sie.
Vorsichtig legt sie dann das Kleiderteil unter die Nähmaschine und fängt an, den Reißverschluss auf der Rückseite festzunähen. Dann folgt der Test: Klemmt er? Läuft er flüssig? Es funktioniert. Sanft gleitet der weiße Reißverschluss nach unten. Schaller ist zufrieden. Dann geht sie ans andere Ende des Zimmers, um die letzen störenden Falten aus dem Stoff zu bügeln. Während das heiße Eisen langsam über das floral-bunte Muster gleitet, erzählt sie. Von ihrer Liebe zur Mode. Und davon, wie sich ihre Sicht auf die Konsumwelt verändert, der Blick auf Materialien und Preise geschärft hat, seit sie mit dem Nähen angefangen hat. „Ich gehe mit anderen Augen einkaufen“, sagt Britta Schaller und streift sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich frage mich dann oft, warum ein einfacher Rock so viel kostet, wenn er doch relativ leicht herzustellen ist.“Nun blickt sie wieder auf ihr fast fertiges Kleid und lächelt. Klappt der Versuch, will sie noch ein zweites Modell nähen. Dann mit Pop-Art-Print statt Paisley-Muster.
Sollte sie noch ein drittes Exemplar kreieren wollen, dürfte das nicht an einer zu geringen Stoffauswahl scheitern. Die Hersteller haben auf den Handarbeitsboom reagiert. Sucht man im Internet nach Stoffen, werden einem tausende Möglichkeiten mit unzähligen Designs, Materialien und Mustern angeboten. Mit Sternen und Blättern. Mit Tupfen und Streifen. Mit Karos und Rauten. Mit fliegenden Kolibris, segelnden Schiffen oder galoppierenden rosa Einhörnern.
„Wir sind immer mehr in eine virtuelle, schnelle Welt integriert und sehnen uns nach reellen Dingen.“Trendforscher Peter Wippermann „In einer netten Runde was für mich selbst zu machen, das ist für mich Entspannung pur.“Nähkurs Teilnehmerin Britta Schaller