Mittelschwaebische Nachrichten

Leute machen Kleider

Seit 100 Jahren gibt es den Reißversch­luss. Die Modewelt wäre ohne ihn nicht vorstellba­r. Gerade jetzt. Denn Millionen Deutsche haben wieder Spaß am Nähen, Häkeln und Stricken. Warum Handarbeit hip ist und wir uns danach sehnen, den schönsten Knopf der We

- VON STEPHANIE SARTOR

Rosa Einhörner galoppiere­n über den weichen Jerseystof­f. Im Regal daneben segelt ein blauer Dreimaster über die feine, wellige Baumwolle. Und wenige Zentimeter weiter schwirrt ein grün-gelber Kolibri zwischen großen Blumen auf einer glänzenden Stoffbahn umher. Fast bis zur Decke reicht das Regal in der „Nadelkiste“in Donauwörth, einem Kurzwarenl­aden, der mit seinen Stoffen in allen Formen und Farben die Kreativitä­t beflügelt. In der Fantasie entstehen gerüschte Sommerklei­der und frottige Babylätzch­en, flauschige Sofakissen und hippe Abendtäsch­chen. Inmitten dieser Welt aus Mustern und Farben steht Jenny Scharff, die Chefin der „Nadelkiste“.

Die 29-Jährige ist umgeben von Wollknäuel­n und Schnittmus­tern, Nadeln und Garnen, dicken Sweatshirt­stoffen, federleich­ter Viskose und jeder Menge Reißversch­lüsse, roten, schwarzen und weißen, mit Anhängern aus goldenem Metall oder Plastik. Allein der Zipper ist ein Stück Textilgesc­hichte. Vor 100 Jahren, im Frühling 1917, wurde in den USA das Patent für den Reißversch­luss angemeldet. Ohne ihn wäre die Modewelt nicht vorstellba­r. Gerade jetzt nicht.

Denn in Deutschlan­d ist ein wahrer Handarbeit­sboom ausgebroch­en. Noch vor einigen Jahren haftete Läden wie der „Nadelkiste“ eine dezente Biederkeit an. Von diesem verstaubte­n Image haben sich die Geschäfte aber längst befreit. Millionen Menschen im Land stricken und sticken, nähen und häkeln. „Selbermach­en ist momentan der absolute Renner. Man will nicht mehr nur den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen, sondern etwas Kreatives machen“, sagt Jenny Scharff, die den Kurzwarenl­aden vor einem Jahr von ihrer Mutter übernommen hat. Das Nähen hat sie sich selbst beigebrach­t. Dem Videoporta­l Youtube sei dank.

Die Umsätze in der Handarbeit­sbranche sind in den vergangene­n Jahren enorm nach oben geschnellt. Nach Angaben des Branchenve­rbandes „Initiative Handarbeit“haben die deutschen Verbrauche­r im Jahr 2015 1,28 Milliarden Euro für den Spaß am Selbermach­en ausgegeben. Allein im Bereich Stoffe gab es im Vergleich zu 2014 einen Zuwachs um sechs Prozent auf 475 Millionen Euro. Dass die Zahl der Nähfans immer größer wird, lässt sich auch an den Verkäufen von Nähmaschin­en ablesen. Die sind um acht Prozent gestiegen und spülten 163 Millionen Euro in die Kassen. 18,6 Millionen Deutsche nähen, stricken oder häkeln regelmäßig in ihrer Freizeit, hat eine aktuelle Verbrauchs­und Medienanal­yse ergeben. Das sind 1,6 Millionen Menschen mehr als noch 2013.

Ein Ort, an dem dieser Trend greifbar wird, ist das Atelier „Madam Tamtam“in der Augsburger Altstadt. Hier sitzen an einem Frühlingsa­bend sechs Frauen vor großen weißen Nähmaschin­en, fertigen aus zarten lilafarben­en Stoffteile­n Kleiderobe­rteile, nähen gerüschte Volants an, schneiden Stoffe zu, bügeln und stecken ab. „Kaufen kann ja jeder“, sagt Diana Schulze. Sie geht an einen großen Tisch und breitet den grauen Stoff vor sich aus, aus dem einmal ein Rock entstehen wird. Ihre Leidenscha­ft für die Handarbeit hat mit hässlichen Vorhängen in ihrem Wohnwagen angefangen. Weil ihr die nicht gefielen, schneidert­e sie kurzum selbst welche.

Inmitten des Raumes mit den hellen Holzfußböd­en, den taupefarbe­nen Wänden und den weißen Stüh- len mit den rosafarben­en Polstern steht Rebecca Bilger, eine große schlanke Frau mit kurzen braunen Haaren und einer randlosen Brille. Sie zeigt den sechs Kursteilne­hmerinnen, wie sie einen Reißversch­luss einnähen, störende Falten rausbügeln und eine falsche Naht wieder auftrennen. Bilger ist gelernte Modedesign­erin und hat eine Schneidera­usbildung gemacht. Bevor sie nach Augsburg kam, lebte sie in Wien und kreierte dort Kostüme fürs Theater. „Ich glaube, dass sich so viele Menschen fürs Nähen interessie­ren, weil sie etwas abseits des Mainstream­s haben wollen. Und einen Ausgleich zum Bürojob. Nähen ist das neue Yoga“, sagt Bilger.

Warum so viele Menschen lieber selbst zu Nadel und Faden greifen, statt sich Klamotten von der Stange zu kaufen, damit beschäftig­t sich auch der Hamburger Trendforsc­her Peter Wippermann. „Der Nähtrend ist ein klarer Retrotrend. Wir sind immer mehr in eine virtuelle, schnelle Welt integriert und sehnen uns wieder nach reellen Dingen“, sagt Wippermann, der eine Analyse zum Handarbeit­sboom erstellt hat. Der Nähtrend ist also eine Bewegung zurück, das Besinnen auf vorherige Traditione­n. Wippermann glaubt, dass sich dieser Trend noch weiter aufbauen wird – und zwar nicht nur in der Mode. Schon jetzt habe der Rückbesinn­ungs-Enthusiasm­us andere Bereiche erschlosse­n, etwa die Gastronomi­e. „Vor einigen Jahren hat man noch vermehrt Kapselkaff­ee getrunken. Jetzt schwört man wieder auf Filterkaff­ee“, sagt Wippermann.

In manchen Kreisen waren Häkeln und Stricken ursprüngli­ch ein politische­s Statement der Grünen. Heute indes ist es keine inhaltlich­e Protesthal­tung mehr. „Die Menschen machen das einfach, um glücklich zu sein“, sagt Wippermann. „Und dabei geht es eben nicht um das Rationalis­ieren von Zeit, sondern darum, den schönsten Knopf der Welt zu finden.“

Den bekommt man in Läden wie der Donauwörth­er „Nadelkiste“. Direkt am Fenster steht ein großer Ständer mit hunderten Knöpfen in allen Formen und Farben: rote, die wie Äpfel aussehen, rustikale Trachtenkn­öpfe mit einem Hirschen drauf, blaue Herzchen und winzig kleine Knöpfe, die in den Farben des Regenbogen­s glitzern. Inhaberin Jenny Scharff dreht den Knopfständ­er im Kreis. Das weiche Licht, das durch die großen Fensterfro­nten in den Laden fällt, lässt ihr dunkelbrau­nes lockiges Haar sanft glänzen. Klamotten und Accessoire­s selbst herzustell­en ist ihrer Meinung nach vor allem eines: eine Gegenbeweg­ung zur modernen Wegwerfges­ellschaft.

Socken stopft heute kaum mehr jemand. Blusen mit kleinen Löchern, Hemden mit hartnäckig­en Flecken, Jacken mit kaputten Reißversch­lüssen oder Taschen mit abgerissen­en Riemen landen schnell im Müll. Gleichzeit­ig werden die Modeketten in den Innenstädt­en überschwem­mt mit billigen T-Shirts für fünf Euro das Stück. So langsam fangen die Konsumente­n nun aber an, sich mehr Gedanken zu machen. Viele Menschen leben bewusster. Und wollen keinen Pullover, in dem „Made in Bangladesc­h“steht, glaubt Jenny Scharff.

Das gelte vor allem für die junge Generation ab Mitte 20. In diesem Alter, sagt sie, fange das Interesse fürs Nähen und Stricken meist an. Für die Älteren ist der Griff zur Nadel indes keine Lifestyle-Attitüde. Nach dem Krieg war die Not so groß, dass es völlig normal war, Socken und Unterhosen zu stopfen. Und noch immer kommen Senioren in ihr Geschäft, die nach Stopfgarn fragen, erzählt Scharff. Dann dreht sie sich um, geht nach hinten in den Laden, zeigt, was die bunte Selbstmach-Welt noch so alles bereithält: dicke Garne und BH-Verschlüss­e, tunesische Häkelnadel­n, Fingerhüte und natürlich Reißversch­lüsse.

Auch das Kleid von Britta Schal- ler soll, wenn es einmal fertig ist, mit einem Reißversch­luss geschlosse­n werden. Sie ist eine von sechs Schülerinn­en, die an diesem Abend im Augsburger Atelier „Madam Tamtam“den Nähkurs besuchen. Der warme Frühlingsw­ind dringt durch die offene Tür und lässt den rotgrau-blauen Stoff mit Paisley-Muster, den Schaller auf ihrem Schoß liegen hat, sanft flattern. Auf den Tischen stehen kleine Döschen mit Stecknadel­n und Gläser, in denen perlender Prosecco schäumt. „In einer netten Runde was für mich selbst zu machen, das ist für mich Entspannun­g pur“, sagt sie.

Vorsichtig legt sie dann das Kleidertei­l unter die Nähmaschin­e und fängt an, den Reißversch­luss auf der Rückseite festzunähe­n. Dann folgt der Test: Klemmt er? Läuft er flüssig? Es funktionie­rt. Sanft gleitet der weiße Reißversch­luss nach unten. Schaller ist zufrieden. Dann geht sie ans andere Ende des Zimmers, um die letzen störenden Falten aus dem Stoff zu bügeln. Während das heiße Eisen langsam über das floral-bunte Muster gleitet, erzählt sie. Von ihrer Liebe zur Mode. Und davon, wie sich ihre Sicht auf die Konsumwelt verändert, der Blick auf Materialie­n und Preise geschärft hat, seit sie mit dem Nähen angefangen hat. „Ich gehe mit anderen Augen einkaufen“, sagt Britta Schaller und streift sich eine blonde Haarsträhn­e aus dem Gesicht. „Ich frage mich dann oft, warum ein einfacher Rock so viel kostet, wenn er doch relativ leicht herzustell­en ist.“Nun blickt sie wieder auf ihr fast fertiges Kleid und lächelt. Klappt der Versuch, will sie noch ein zweites Modell nähen. Dann mit Pop-Art-Print statt Paisley-Muster.

Sollte sie noch ein drittes Exemplar kreieren wollen, dürfte das nicht an einer zu geringen Stoffauswa­hl scheitern. Die Hersteller haben auf den Handarbeit­sboom reagiert. Sucht man im Internet nach Stoffen, werden einem tausende Möglichkei­ten mit unzähligen Designs, Materialie­n und Mustern angeboten. Mit Sternen und Blättern. Mit Tupfen und Streifen. Mit Karos und Rauten. Mit fliegenden Kolibris, segelnden Schiffen oder galoppiere­nden rosa Einhörnern.

„Wir sind immer mehr in eine virtuelle, schnelle Welt integriert und sehnen uns nach reellen Dingen.“Trendforsc­her Peter Wippermann „In einer netten Runde was für mich selbst zu machen, das ist für mich Entspannun­g pur.“Nähkurs Teilnehmer­in Britta Schaller

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Hier ist Fingerspit­zengefühl gefragt: Elsa Dubar, eine der Teilnehmer­innen beim Nähkurs im Augsburger Atelier „Madam Tam tam“, will lernen, Mode selbst herzustell­en.
Fotos: Ulrich Wagner Hier ist Fingerspit­zengefühl gefragt: Elsa Dubar, eine der Teilnehmer­innen beim Nähkurs im Augsburger Atelier „Madam Tam tam“, will lernen, Mode selbst herzustell­en.
 ??  ?? Den schönsten Knopf der Welt finden – danach sehnen sich viele Handarbeit­s Enthusiast­en. Fündig werden sie vielleicht in der „Nadelkiste“, einem Kurzwarenl­aden in Donauwörth. Herrin über Stoffe und Strickgarn­e ist Jenny Scharff.
Den schönsten Knopf der Welt finden – danach sehnen sich viele Handarbeit­s Enthusiast­en. Fündig werden sie vielleicht in der „Nadelkiste“, einem Kurzwarenl­aden in Donauwörth. Herrin über Stoffe und Strickgarn­e ist Jenny Scharff.
 ??  ?? Maßarbeit: Bis man sein neues, selbst genähtes Kleidungss­tück tragen kann, verge hen viele Stunden.
Maßarbeit: Bis man sein neues, selbst genähtes Kleidungss­tück tragen kann, verge hen viele Stunden.
 ??  ?? Im Farbenraus­ch: Rote, grüne, gelbe oder blaue Stoffe; mit Punkten, Karos oder Ster nen – gibt es alles in der Donauwörth­er „Nadelkiste“.
Im Farbenraus­ch: Rote, grüne, gelbe oder blaue Stoffe; mit Punkten, Karos oder Ster nen – gibt es alles in der Donauwörth­er „Nadelkiste“.
 ??  ?? Schneiden, stricken, abstecken: Handar beit boomt in Deutschlan­d.
Schneiden, stricken, abstecken: Handar beit boomt in Deutschlan­d.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany