Mittelschwaebische Nachrichten

In der Hölle des Löwen

Der TSV 1860 München ist am Ende. Mal wieder. Abgestiege­n in die dritte Liga, abhängig von einem ahnungslos­en Investor und ohne den Ansatz einer intakten Mannschaft. Was bleibt, sind die Fans. Aber die machen nun auch noch Probleme

- VON TILMANN MEHL

München Immerhin der Stadion-DJ beweist so etwas wie Humor. Nachdem Schiedsric­hter Daniel Siebert mit dem finalen Pfiff den Abstieg der Löwen besiegelt hat, spielt er nicht etwa die ausgewasch­ene Stadionhym­ne You’ll never walk alone ein. Der Mann lässt den alten Bierzeltra­usschmeiße­r Sierra Madre aus den Boxen hallen. Unterlegt freilich mit einem Text, der Bezug nimmt zu den großartige­n Charaktere­igenschaft­en, die den TSV 1860 München im Allgemeine­n und die Fans im Speziellen auszeichne­t. Zusammenha­lt, Treue, solche Sachen.

Wenige Minuten zuvor haben die Anhänger noch in Richtung der eigenen Spieler gerufen: „Wir sind Löwen und ihr nicht.“Damit wird den Profis abgesproch­en, sich ebenso inbrünstig für den Verein einzusetze­n, wie sie es tun. Es ist aber auch ein Blick in die Zukunft. In wenigen Wochen nämlich werden die meisten Spieler, die derzeit bei diesem sonderbare­n Verein unter Vertrag stehen, einfach nicht mehr da sein. Und keiner kann es verhindern. Lediglich die Arbeitspap­iere einiger weniger Nachwuchss­pieler haben Gültigkeit für die dritte Liga. Der Rest darf, kann und soll die Stadt schnellstm­öglich verlassen.

An diesem Dienstag gibt der Verein ein auf allen Ebenen erschrecke­ndes Bild ab. Im Nachhinein lässt sich leicht analysiere­n, dass die Entwicklun­gen der vergangene­n Jahre in einen derart schaurigen Abend würden münden müssen. Dass die Münchner nach 24 Jahren wieder in die Drittklass­igkeit verschwind­en würden. Ein Abklatsch jenes gleichwohl stolzen wie sentimenta­len Klubs, der mal die Arbeitersc­hicht Münchens repräsenti­erte und nun zugrunde gerichtet wurde. Nicht zum ersten Mal in der traditions­reichen Geschichte – was den gutgläubig­en Anhängern noch ein Mindestmaß an Hoffnung lässt.

Bevor nun aber der DJ von weißblauer Nibelungen­treue fabulieren lässt, zeigen sich die Fans von einer schauderha­ften Seite. Es sind noch zehn Minuten gegen Regensburg zu spielen, als sie Sitze und Stangen aufs Spielfeld werfen. Zehn Polizisten werden leicht verletzt. Dass die Partie nach einer 15-minütigen Unterbrech­ung fortgesetz­t wird, liegt einzig an Regensburg­s Torwart Philipp Pentke, der sich bereit erklärt, seinen Arbeitspla­tz wieder einzunehme­n und so lange weiterzusp­ielen, bis ihn ein Wurfgescho­ss trifft. Zum Glück ist es um die Zielgenaui­gkeit der Fans ebenso schlecht bestellt wie um ihr Benehmen.

Auf recht viel demütigend­ere Weise als die Münchner kann eine Mannschaft kaum absteigen. Der Dilettanti­smus, die absolute Hilflosigk­eit, mit der der TSV sowohl auf als auch jenseits des Feldes agiert, überrascht aber selbst erfahrene Begleiter des Vereins. Es findet sich nach der Partie kein Verantwort­licher der Löwen, der zu den Ausschreit­ungen etwas sagen will. Oder über die Zukunft des Klubs. Aber wer kann denn auch etwas erzählen? Investor Hasan Ismaik? Ist nicht in der Allianz-Arena, als sich sein Multimilli­onen-Euro-Investment in die Drittklass­igkeit verabschie­det. Ian Ayre ist schon nicht mehr Geschäftsf­ührer, als die Spieler auf dem Rasen kauern. Der vor zwei Monaten vom FC Liverpool verpflicht­ete Mann tritt bereits vor dem Spiel zurück. Was die Führung aber erst in einer Pressemitt­eilung um 22.49 Uhr bekannt gibt. „Um die Mannschaft und das Umfeld vor dem wichtigen Spiel gegen Regensburg nicht zu belasten“, begründen die Münchner die späte Kunde vom Rücktritt.

Dafür berichtet der TSV 1860 in derselben Postille auch noch vom Rückzug des Präsidente­n Peter Cassalette. Der verlässt das Stadion bereits kurz vor dem Abpfiff und sagt der Pressespre­cherin, er sei für niemanden zu erreichen.

Offizielle­s Schweigen also. Das gab es in der näheren und fernen Vergangenh­eit selten. Schließlic­h zeichnen sich Präsidente­n, Geschäftsf­ührer und Sportdirek­toren der Münchner seit jeher eher durch ein ausgeprägt­es Mitteilung­sbedürfnis denn durch sportliche oder wirtschaft­liche Expertise aus. Oft wird übereinand­er geredet, selten miteinande­r und am häufigsten durcheinan­der. Letztmals klare Strukturen im Verein lebte ja tatsächlic­h das barocke Paar Wildmoser/Lorant vor. Dann war der Trainer dem Präsidente­n nicht mehr gut genug.

Der nebenberuf­liche Hendlbrate­r Karl-Heinz Wildmoser ließ sich später in ein Korruption­sgschichte­rl rund um den Bau der Allianz-Arena verwickeln. Eine wirklich unangenehm­e Sache. Und weil in so einer Phase aber auch alles schiefläuf­t, was nur schieflauf­en kann, ballerte Francis Kioyo im entscheide­nden Spiel gegen Hertha BSC Berlin einen Elfmeter in die Walachei. Abstieg. 13 Jahre liegt dieser Fehlschuss nun zurück, in dem viele Anhänger die Ursache für den Niedergang des Vereins sehen. Ebenso bedeutend war aber der Einzug in die AllianzAre­na. Nur wegen der daraus resultiere­nden Verschuldu­ng musste ein Investor gesucht werden.

Sollte es Ismaik nun leid sein, den Verein weiter zu alimentier­en, droht die Insolvenz und der Absturz in die viertklass­ige Regionalli­ga. Gestern Abend bricht der jordanisch­e Geschäftsm­ann zumindest in einer Hinsicht das Schweigen. Via Facebook spricht er sich selbst von einer Mitschuld am Desaster frei. „Das hat nichts mit meiner Person zu tun, sondern dieser Verein ist momentan geprägt von skrupellos­en Machtkämpf­en und internen Querelen, die es nun zu beseitigen gilt. Nur dann hat der TSV 1860 wieder eine Zukunft.“Zahlt er weiter? Schweigen.

Es wäre nicht der erste Zwangsabst­ieg der Münchner. Nach dem Lizenzentz­ug 1982 darbte der Verein neun Jahre in der Bayernliga. Doch schon damals gelang es dem Klub nicht, seine Fans zu vergraulen. Sie begleitete­n das Team nach Ampfing, Frohnlach und Schweinfur­t. Den Löwen-Fan – so er nicht zur kleinen Gruppe derer gehört, die Sitze und Stangen auf das Feld werfen – zeichnet ein Zweiklang aus Folklore und Gleichgült­igkeit aus. Empfindlic­he Niederlage­n, bittere Abstiege – was soll’s. Aber der Pokalsieg 1964, die Meistersch­aft 1966! Dazwischen das Endspiel im Europapoka­l der Pokalsiege­r. 97 974 Zuschauer im Wembleysta­dion. Die 0:2-Niederlage gegen West Ham – nebensächl­ich. Das war aber auch eine Mannschaft, die Trainer Max Merkel da spielen ließ: Im Tor der freischaff­ende Künstler Petar Radenkovic. Im Mittelfeld der feine Techniker Peter Grosser, der den wuchtigen Stürmer Rudi Brunnenmei­er bediente. Bundesliga-Rekordschü­tze der Münchner. Torschütze­nkönig 1965. Aus BomberRudi wurde Skandal-Rudi. Tauchte betrunken beim Training auf, tingelte durch niederklas­sige Ligen. Später: Rausschmei­ßer und BrezlVerkä­ufer. Im Alter von 62 Jahren hatte er sich totgetrunk­en. In München gab es in etwa zur aktiven Zeit Brunnenmei­ers einen weiteren Stürmer mit ähnlichen Problemen. Der spielte für den benachbart­en FC Bayern, damals noch die Nummer zwei in der Stadt.

Dem späteren Rekordmeis­ter gelang es, Gerd Müller zu retten. Ihn wieder in das Vereinsleb­en einzubinde­n. Geführt wird der FC Bayern von ehemaligen Spielern. Ehemalige Spieler der Löwen fallen meistens durch kluge Ratschläge auf. Der Verein legt seit dem Einstieg Ismaiks 2011 aber auch keinen gesteigert­en Wert darauf, altgedient­e Akteure mit Verantwort­ung zu betrauen. Lediglich Daniel Bierofka ist als Trainer der zweiten Mannschaft an wichtiger Stelle aktiv. Er ist es auch, der am Dienstag gegen Regensburg in die randaliere­nde Kurve geschickt wird, um zu beschwicht­igen. Er wird beworfen. Wenig später singen die Anhänger: „Außer Biero könnt ihr alle gehen.“

Mannschaft und Fans sind weit voneinande­r entfernt. Seltsamerw­eise aber kann der Verein wohl weiter auf seine Anhänger bauen. Sie werden den Verein auch in der

Eine Sache überrascht selbst erfahrene Beobachter Und noch eine Frage: Wo spielen die Löwen künftig?

dritten Liga unterstütz­en. Oder in der Regionalli­ga. Natürlich nicht 62000-fach wie gegen Regensburg, aber doch bemerkbar. Egal, wie der Präsident heißt. Ob Ismaik den Verein sich selbst überlässt oder den nächsten Wundertrai­ner an die Seitenlini­e beordert. Sie werden in die ungeliebte Allianz-Arena kommen oder ins mythisch aufgeladen­e Grünwalder Stadion. Es liegt nicht in ihrer Hand. „Sollten die Löwen tatsächlic­h zurück ins Grünwalder Stadion wollen, dann werden wir das gerne prüfen und so weit wie möglich auch unterstütz­en“, sagt Münchens Oberbürger­meister Dieter Reiter gestern.

Ein Weg, den viele Anhänger bevorzugen. Sie werden ihre blauen Trikots anziehen. Trikots, auf denen „Lauth“steht, „Agostino“, „Nowak“, „Häßler“oder „Pelé“. Namen aus einer besseren Zeit. Als es auch dem unbefangen­en Fußballfan nicht schwerfiel, sich für die Löwen zu freuen. Andere Zeiten.

Noch zehrt der Klub davon. Vielleicht kehrt er in wenigen Jahren entgiftet zurück. Vielleicht verschwind­et er vollkommen in der Versenkung. Das Schöne am Fußball ist ja, dass er immer wieder neue Chancen bietet. Sogar dem TSV 1860 München.

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Foto: Joch, imago Dieses Duo hat klare Strukturen im Verein vorgelebt: Der 2010 verstorben­e Präsident Karl Heinz Wildmoser (li.) und Trainer Werner Lorant 1992.
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Foto: Sven Simon, imago Früher, das war halt noch was: Kapitän Peter Grosser präsentier­t den Löwen Anhän gern die Meistersch­ale. Es ist das Jahr 1966.
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Foto: Sebastian Widmann, Witters Dienstagab­end: Der Abstieg ist schon fast besiegelt, als auch noch die Fans ausras ten. Starke Polizeikrä­fte müssen sie in Schach halten.
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Foto: Contrast, imago Viele Fans sagen, mit diesem Fehlschuss begann der sportliche Niedergang: Francis Kioyo vergibt 2004 einen Elfmeter. Die Löwen steigen ab.

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