Mittelschwaebische Nachrichten
„Im Netz wird auf Stammtischniveau geschrieben“
Manches Gerichtsurteil sorgt für Unverständnis. Bürger halten Entscheidungen für zu hart oder zu lasch – und machen ihrem Ärger im Internet Luft. Ein Gespräch mit zwei Richtern über Gerechtigkeit und fehlenden Respekt
Herr Henle, Frau Braun, offenbar finden viele Bürger so manches Gerichtsurteil nicht gerecht. Auf unserer Facebook-Seite diskutieren Nutzer darüber, warum ein Mann nur eine Bewährungsstrafe bekommt, der auf einem Fest in Ichenhausen einen Besucher schwer verletzt. Und ein Mann, der in die Sparkasse am Günzburger Markt eingedrungen ist, dort mit einer Frau Sex hatte und in die Ecke uriniert, bekommt – auch wegen anderer Delikte – eine Haftstrafe. Wie gerecht kann ein Gerichtsurteil sein?
Franziska Braun: Ein Professor im Studium sagte einmal, Recht hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Aber im Ernst: Als Richterin kenne ich die Akten zu einem Fall und weiß somit mehr darüber als die Öffentlichkeit.
Walter Henle: Das eine ist die Strafe. Das andere ist die Sozialprognose. Ab zwei Jahren muss man nicht mehr über eine Bewährung nachdenken. Aber ein Richter muss auch überlegen, ob eine verhängte Strafe ein künftig straffreies Leben ermöglicht oder nicht. Dabei ist entscheidend, ob jemand bislang unbescholten war oder Vorstrafen hatte. Ich würde auch kein Urteil kommentieren, wenn ich nicht selbst bei der Verhandlung dabei war.
Sie werden im Internet oft scharf kritisiert (den Richtern werden ein paar Äußerungen von Facebook-Nutzern vorgelesen, wie etwa „Sauerei so ein Urteil! Hier gehört der Richter gleich mit verklagt!“oder „Sieht man mal wieder, dass unser Rechtssystem immer versagt, außer bei Verbrechen dem Staat gegenüber!“). Trifft Sie das?
Braun: Ich lese nicht, was im Internet dazu kommentiert wird, ich habe auch keinen Facebook-Account. Was soll ich von jemandem halten, der etwas im Netz verbreitet, ohne zu wissen, wovon er schreibt? Aber es wäre schon wichtig, wenn Sie in Ihren Artikeln auch die Begründung eines Urteils erwähnen würden. Ich muss mich nach der Strafandrohung richten. Die erste Entscheidung ist, ob eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe zu verhängen ist. Erst dann kommt die Strafzumessung. Da fließen auch die Schuld des Täters und die Auswirkungen der Strafe auf ihn mit ein. Henle: Was im Netz geschrieben wird, bewegt sich auf Stammtischniveau. Da bewegen wir uns nicht. Wir haben auch die Aufgabe, einen Täter zu resozialisieren. Braun: Die meisten Fehler in Urteilen passieren bei der Strafzumessung. Das ist sehr knifflig. Zum Fall in Ichenhausen: Der Umstand, dass die Körperverletzung lebensgefährlich ist, ist im Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung enthalten. Dieser Umstand darf bei der Strafzumessung nicht zum Nachteil des Täters berücksichtigt werden, es ist das Doppelverwertungsverbot.
Die Urteile fallen meist auch sehr schnell, nachdem die Plädoyers gehalten wurden. Henle: Man bereitet die Verhandlung ja vor, ohne dabei jemanden vorzuverurteilen. In der Verhandlung überprüft man dann die Aktenlage.
Ist es einfacher, alleine zu urteilen oder wenn noch Schöffen dabei sind? Braun: Als Einzelrichter ist man schneller, aber sechs Augen sehen mehr und sechs Ohren hören mehr. Henle: Ein Schöffe bildet seinen Beitrag auch nur aus dem, was er in der Verhandlung erfährt. Er hat keinen Zugang zu den Akten. Es ist auch nicht immer leicht, man muss Schöffen meist viel erklären. Braun: Ich bemühe mich auch, an jeden Fall so heranzugehen, als sei der Angeklagte unschuldig. Der Krug füllt sich während der Verhandlung.
Wir haben eben über die an Ihnen geübte Kritik gesprochen. Wie erleben Sie es sonst: Merken Sie auch, wie Polizisten oder Rettungskräfte, dass der Respekt der Leute schwindet? Henle: Ja, schon. In Hauptverhandlungen passieren Dinge, die waren früher undenkbar. Aber wir können darauf reagieren mit Ordnungsgeld oder Ordnungshaft. Die kann bis zu einer Woche dauern und wird sofort vollstreckt, wenn sich jemand bei der Verhandlung nicht benimmt. Da gibt es auch eine Beschwerdemöglichkeit, aber bis darüber entschieden ist, ist die Woche schon vorbei.
Haben Sie ein Beispiel für etwas, was es früher nicht gegeben hat? Henle: Mir kam während einer Verhandlung ein Italiener seltsam vor. Ich fragte ihn auf Italienisch, ob er betrunken sei. Er antwortete auf Italienisch: Nicht mehr als Sie. Dann ist er für eine Woche eingefahren. Oder ein Jugendlicher erfüllte die Bewährungsauflage nicht. Als ich ihn am Telefon darauf ansprach, meinte er: Halt die Fresse, Alter.
Und Sie, Frau Braun? Braun: Ich erlebe so etwas ganz selten. In einer Schulung hieß es mal: Wir repräsentieren den Staat. Und dabei geht es auch darum, wie man auftritt. Das habe ich im Hinterkopf. So etwas wie mit den Reichsbürgern, die Akten stehlen, so etwas wäre früher nicht passiert. Fragt man sich da nicht manchmal, wofür man das alles überhaupt macht? Henle: Wir werden für Rechtsfrieden sorgen, ob es der Bevölkerung gefällt oder nicht. Braun: Wir sehen da ja nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft. Und dass Straftäter nicht begeistert sind, wenn sie vor Gericht stehen, liegt auf der Hand. Aber ich denke, der Großteil der Bürger hat Vertrauen in eine funktionierende Justiz und einen funktionierenden Staat. Es ist ja einfach, etwas anonym im Netz zu verbreiten. Aber dass mich direkt jemand anspricht und Kritik übt, kommt selten vor. Henle: Es wäre schlimm, wenn Urteile durch einen Teil der Bevölkerung bestimmt würden. Urteile müssen den Gesetzen entsprechen und verhältnismäßig sein. Aber ein Problem ist, dass man etwas beurteilen muss, was man nicht miterlebt hat. Wie sogenannte Knallzeugen eines Unfalls. Sie werden erst durch den Knall darauf aufmerksam und erzählen dann, wie er zustande kam.
Und dass so oft Zeugen einfach nicht erscheinen? Ist das Respektlosigkeit? Braun: Viele verschusseln es. Henle: Manche schaffen es auch nicht, schon um 10 Uhr auf zu sein. Braun: Oder jemand kommt nicht, weil er nicht einräumen will, dass er etwas Falsches ausgesagt hat.
Was wird denn getan, um das Interesse an der und das Verständnis für die Justiz zu wecken oder zu vergrößern? Braun: Bei uns sind oft Schulklassen zu Besuch. Dafür nehmen wir uns immer Zeit. Es gibt auch Tage der offenen Tür oder die Woche der Justiz. Grundsätzlich sind aber eher größere Prozesse wie der zum NSU bei den Bürgern von Interesse. Und Unverständnis kommt durch die Unkenntnis der Gesetzeslage. Henle: Und durch gewisse Fernsehserien. Die Leute denken, bei uns geht es zu wie bei Richterin Barbara Salesch. Es ist aber nötig, dass sich die Justiz um Akzeptanz bemüht.
Interessiert den Gesetzgeber eigentlich, wie Gesetze in der Praxis funktionieren? Werden sie auf ihre Praxistauglichkeit hin überprüft? Henle: Es gibt regelmäßig Berichtsaufträge für uns dazu. Braun: Es sind immer Kollegen nach Berlin abgeordnet, um die Legislative zu beraten.
Und wie ist Ihre Personalausstattung? Henle: Bei Richtern sind wir relativ gut ausgestattet, wobei weitere gut wären. Bei Rechtspflegern haben wir wegen längerer Krankheit und Schwangerschaft Probleme, weil in Bayern kein Ersatz verfügbar ist – es wurde zu wenig ausgebildet, was erst jetzt nachgeholt wird. Aber die Ausbildung dauert nun einmal drei Jahre. Auch bei unserer Geschäftsstelle gibt es Lücken, aber da kann man neu einstellen. Generell gilt aber bei Juristen: In Großkanzleien bekommen sie ein Einstiegsgehalt, das ich selbst heute nicht verdiene. Braun: Die Justiz muss da attraktiv bleiben. Aber große Vorteile sind flexible Arbeitszeiten und der Wiedereinstieg nach der Kinderpause.
Ziehen sich Verfahren hin, weil das Personal fehlt? Henle: Bei Richtern nicht, bei Rechtspflegern dauert es aber länger. Wir können es nicht ändern. Aber unsere Mitarbeiter sind unheimlich flexibel.
Es fällt auf, dass die Staatsanwaltschaft sehr oft Referendare schickt, die den Fall nicht genau kennen. Braun: Jeder von uns war auch mal Referendar. Und auch der Staatsanwalt weiß nicht alles über den Fall, da er nur eine Handakte hat. Henle: In der Verhandlung ist in der Regel nicht der Staatsanwalt, der den Fall vorher bearbeitet hat. Er geht rein und kennt das Verfahren nicht. Aber das war schon immer so. Braun: Bei großen Sachen kommt auch der bearbeitende Staatsanwalt.
Wie hat sich Ihr Beruf verändert? Henle: Die Belastung ist viel größer geworden. Die Fälle und die Menschen werden komplizierter. Braun: Vor 20 Jahren gab es noch keine Internetkriminalität, und die Anwälte spezialisieren sich immer mehr, während wir alles können sollen. In manchen Gebieten, wie im Medizinrecht, ist das nicht möglich. Henle: Ganz schlimm ist es auch bei Wirtschaftsstrafsachen. Braun: Die Spezialkanzleien haben auch eine ganz andere Ausstattung. Als wir noch nicht wussten, was Laptops sind, hatten sie welche. Henle (lacht): Zur Ehrenrettung: Jetzt haben wir auch welche. Dass die Computer-Ausstattung vorangetrieben wurde, war übrigens ein Verdienst von Alfred Sauter, als er Justizminister war. Braun: Es hat sich aber manches verbessert. Früher war die Recherche ohne Internet viel anstrengender. Henle: Aber es sind viele Aufgaben auf uns verlagert worden. Und wenn ich mir noch eine Verbesserung wünschen könnte, wäre es, dass wir einen Hausmeister hätten.
Sie haben Freude an Ihrem Beruf? Henle: Ja, der Umgang mit Menschen macht es aus, auch wenn er oft negativ ist (lacht). Ich bedaure aber, keine Jugendstrafsachen mehr zu machen, da kann man kreativer sein und jemanden, der den rechten Arm hochstreckt, zum Besuch in ein ehemaliges KZ schicken. Braun: Bei mir sind es auch die Menschen und etwas für sie zu bewirken. Besonders freue ich mich, wenn jemand die Bewährungszeit durchsteht und sein Leben eine Wende nimmt.
Dass beispielsweise straffällig gewordene Ausländer oft doch nicht abgeschoben werden: Ärgert Sie das? Henle: Statistisch gesehen sind beispielsweise Asylbewerber nicht krimineller als andere. Und für Abschiebungen sind wir nicht zuständig, sondern nur für das Strafmaß.
Sie sagten, es sei nötig, dass sich die Justiz um mehr Akzeptanz bemüht. Was ist dafür zu tun? Henle: Frau Braun hat das schon angesprochen. Aber wir bieten auch Rechtsbildungsunterricht für Flüchtlinge und erklären, wie der Staat und das Grundgesetz funktionieren. Die Justiz versteckt sich nicht, sie geht auf die Bürger zu.
Interview: Christian Kirstges und Alexander Sing O
Zur Person Richter Walter Henle, 60, ist seit 1985 bei der Justiz, seit 2013 ist er Direktor des Amtsgerichts Günzburg. Richterin Franziska Braun, 44, war Anwältin, seit 2001 ist sie bei der Justiz, seit 2004 in Günzburg.
„Leute denken, bei uns ist es wie bei Richterin Salesch.“Amtsgerichtsdirektor Walter Henle „Die Justiz muss attraktiv bleiben.“Richterin Franziska Braun