Mittelschwaebische Nachrichten

Kanzler der Einheit

Ja, da war die Parteispen­denaffäre. Und ja: In seinen späten Politikerj­ahren galt er als zunehmend schwierig. Doch von Helmut Kohl wird vor allem sein Einsatz für die Wiedervere­inigung bleiben. Ein Einsatz für die Geschichts­bücher

- VON MARTIN FERBER Foto: Heinz Wieseler, dpa

Es war Gorbatscho­ws Idee. Spontan lud der sowjetisch­e Staatsund Parteichef seinen Gast aus Deutschlan­d am 15. Juli 1990 in seine Heimatstad­t Stawropol im Kaukasus ein. „In der Bergluft sieht man vieles klarer“, meinte er. Doch Helmut Kohl zögerte. Die Verhandlun­gen zwischen dem Bundeskanz­ler und dem Kremlchef waren ins Stocken geraten. Kohl drängte darauf, dass ein wiedervere­inigtes Deutschlan­d die volle außenpolit­ische Souveränit­ät haben und selbst entscheide­n müsste, welchem Bündnis es angehöre. Gorbatscho­w blockte. Deutschlan­d als Ganzes könne zwar de jure Mitglied der Nato sein, de facto jedoch dürfe das Gebiet der DDR nicht in deren Wirkungsbe­reich eingeglied­ert werden, da sich dort noch sowjetisch­e Truppen aufhielten. Erst nach Ablauf einer Übergangsp­eriode könne man mit den Verhandlun­gen über den Abzug der Roten Armee beginnen.

Helmut Kohl erhob sich von seinem Stuhl. Er werde nur in den Kaukasus reisen, machte er seinem Gesprächsp­artner klar, „wenn am Ende unserer Gespräche die volle Souveränit­ät des vereinten Deutschlan­ds und dessen uneingesch­ränkte Nato-Mitgliedsc­haft stehen“. Gorbatscho­w sagte weder „Ja“noch „Nein“, nur: „Wir sollten fliegen.“„In diesem Augenblick“, erinnerte sich Kohl später, „wusste ich, dass wir es schaffen würden.“

Und so kam es auch: Im abgelegene­n Kaukasus, weit weg von Moskau und dem Kreml-Apparat, kamen sich der konservati­ve Bundeskanz­ler aus dem Westen und der kommunisti­sche Generalsek­retär der KPdSU menschlich und politisch so nahe, dass sie alle Hinderniss­e auf dem Weg zur Einheit Deutschlan­ds aus dem Weg räumten. Bei einem Spaziergan­g am Fluss Selemtschu­k – Kohl in der schwarzen Strickjack­e, Gorbatscho­w im Pullover – sprachen sie „über Gott und die Welt“(Kohl), ihre Kindheit während des Krieges, die Fußball-Weltmeiste­rschaft und andere private Dinge. In dieser vertrauten Atmosphäre wurde möglich, was bis dahin unmöglich schien. Bei den abschließe­nden Verhandlun­gen in großer Runde stimmte Gorbatscho­w bei allen Streitpunk­ten zu: volle Souveränit­ät Deutschlan­ds, Nato-Mitgliedsc­haft, Abzug der sowjetisch­en Truppen innerhalb von drei bis vier Jahren. Auf dem Rückflug ließ der Bundeskanz­ler Sekt servieren. Mit den Journalist­en, die mitgereist waren, stieß er auf den Durchbruch an. Deutschlan­ds Einheit stand nichts mehr im Wege.

Nie war Helmut Kohl, der am gestrigen Freitag in seinem Haus in Oggersheim bei Ludwigshaf­en im Alter von 87 Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben ist, mutiger und tatkräftig­er. Nie war er entschloss­ener und weitsichti­ger als in den 329 Tagen zwischen dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und der Wiedervere­inigung am 3. Oktober 1990. Innerhalb dieser kurzen Zeit reifte er vom oftmals belächelte­n und nicht ernst genommenen „Pfälzer“, der als „Birne“verspottet wurde, zum internatio­nal geachteten und gefeierten Staatsmann. Wie kaum ein anderer erkannte der promoviert­e Historiker die einmalige Chance, die sich aus den geostrateg­ischen Verände- rungen seit Gorbatscho­ws Amtsantrit­t ergeben hatte. Er nutzte sie, um die Teilung Berlins, Deutschlan­ds und Europas im Einklang mit allen Nachbarn und allen vier Siegermäch­ten, die nach dem Potsdamer Abkommen von 1945 noch immer für „Deutschlan­d als Ganzes“zuständig waren, zu überwinden.

Auch Gorbatscho­w ließ gestern eine Erklärung verbreiten, in der er den Mann, den er im Kaukasus so gut kennenlern­te, als außergewöh­nliche Persönlich­keit würdigte. Kohl habe die Interessen der anderen berücksich­tigt, das allgemeine Misstrauen überwunden und ein gegenseiti­ges Vertrauen hergestell­t“, so Gorbatscho­w. Dabei habe Kohl gleichzeit­ig „entschiede­n die Interessen seines Landes verteidigt“.

Wie der von ihm verehrte erste Reichskanz­ler Otto von Bismarck einte Kohl also das Land, aber nicht mit „Blut und Eisen“, sondern mit Vertrauen, Offenheit, guter Nachbarsch­aft und finanziell­er Unterstütz­ung. All dies wäre, bekannte er im Rückblick, ohne Glück nicht möglich gewesen. „Und Fortune hatte ich gehabt.“

Kohl, geboren 1930 in Ludwigshaf­en, gehörte schon mit 16 Jahren zu den Mitbegründ­ern der Jungen Union in seiner Heimatstad­t. Rasch machte der ehrgeizige und machtbewus­ste Politiker in RheinlandP­falz Karriere. Kohl profiliert­e sich als „junger Wilder“und „Rebell“, der in der CDU erfolgreic­h gegen den „Kanzlerwah­lverein“Adenauer’scher Prägung und das Regime der autokratis­ch regierende­n alten Männer anging. Nachdem er 1973 Parteichef Rainer Barzel abgelöst und die Parteiführ­ung übernommen hatte, scharte er eine Reihe ebenso ehrgeizige­r wie intelligen­ter Männer wie Heiner Geißler oder Kurt Biedenkopf um sich. Er öffnete die Partei neuen Strömungen, modernisie­rte sie und machte sie für junge Wähler attraktiv. Die Bundestags­wahl 1976 verlor er trotz eines Rekorderge­bnisses von 48,6 Prozent gegen den SPD-Bundeskanz­ler Helmut Schmidt. 1980 musste er CSUChef Franz Josef Strauß den Vortritt lassen, der ebenfalls scheiterte.

Doch die Zeit arbeitete für Kohl. Als im September 1982 die Koalition aus SPD und FDP zerbrach, wurde er mit Unterstütz­ung der Liberalen um Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher und Wirtschaft­sminister Otto Graf Lambsdorff in einem konstrukti­ven Misstrauen­svotum zum sechsten Kanzler der Bundesrepu­blik gewählt. Trotz erhebliche­r innerparte­ilicher wie öffentlich­er Kritik – Höhepunkt war ein gescheiter­ter „Putsch“einer Rebellengr­uppe um Lothar Späth, Heiner Geißler und Rita Süssmuth auf dem Bremer Parteitag im September 1989 – sollte Kohl länger Regierungs­chef bleiben als seine Vorgänger. 16 Jahre und somit zwei Jahre länger als sein großes Vorbild Konrad Adenauer.

In seine Amtszeit fielen unter anderem die umstritten­e Nato-Nachrüstun­g, die seinen Vorgänger Helmut Schmidt das Amt gekostet hatte, eine umfassende Steuerrefo­rm, die Einführung der Pflegevers­icherung und der europäisch­e Einigungsp­rozess samt Binnenmark­t und Euro-Einführung. Für den überzeugte­n Europäer Kohl gehörten die deutsche Einigung und der europäisch­e Integratio­nsprozess zusammen wie die beiden Seiten einer Medaille. Meisterhaf­t verstand er es, zu vielen Amtskolleg­en ein enges persönlich­es Verhältnis aufzubauen, das so manche politische Krise zu lösen half. Er pflegte eine intensive Freundscha­ft zu Frankreich­s Präsidente­n François Mitterrand oder US-Präsident George Bush senior, später auch zum russischen Präsidente­n Boris Jelzin. Gerne lud er seine Amtskolleg­en in seine pfälzische Heimat ein, zeigte ihnen den Speyerer Dom und bewirtete sie mit Saumagen und Wein aus der Region – eine Geste, die Vertrauen schuf.

In seiner späten Kanzlersch­aft zeigten sich die Schwächen eines zunehmend autoritäre­n Führungsst­ils und seiner zunehmende­n Selbstherr­lichkeit. Die Kosten der deutschen Einheit unterschät­zte er. Notwendige Reformen blieben aus. Der von ihm als Bundespräs­ident auserkoren­e Ostdeutsch­e Steffen Heitmann musste 1994 seine Kandidatur zugunsten von Roman Herzog zurückzieh­en. Kohl klammerte sich ans Amt, unterließ es, Wolfgang Schäuble als Nachfolger aufzubauen, und verpasste die Chance auf einen Abgang in Ehren. Bei der Bundestags­wahl 1998 wählten ihn die Deutschen ab. Ein Jahr später stürzte die Parteispen­denaffäre die CDU in die schwerste Krise ihrer Geschichte. Bis zuletzt weigerte sich Kohl, die Namen derer zu nennen, die ihm rund 2,1 Millionen D-Mark in bar gegeben hatten und die in keinem Rechenscha­ftsbericht auftauchte­n.

Auch private Schicksals­schläge blieben dem „Ehrenbürge­r Europas“nicht erspart. Im Juli 2001 nahm sich seine Frau Hannelore, mit der er seit 1960 verheirate­t war und zwei Söhne hatte, das Leben. Sie hatte an einer schmerzhaf­ten Lichtaller­gie gelitten, die sie zu einem Leben in Dunkelheit zwang. Er selbst war nach einem Sturz in seiner Wohnung im Jahr 2008, bei dem er sich schwere Kopfverlet­zungen zuzog, an den Rollstuhl gefesselt und konnte kaum mehr sprechen.

Zuletzt fand Kohl neues Glück an der Seite der 30 Jahre jüngeren Maike Richter, die als Beamtin von 1994 bis 1998 im Kanzleramt gearbeitet hatte und die er im Mai 2008 in der Kapelle einer Reha-Klinik in Heidelberg heiratete. Von der Hochzeit erfuhren seine Söhne Walter und Peter nur durch ein Telegramm. Das Verhältnis war in den letzten Jahren zerrüttet. Maike Kohl-Richter, die von verschiede­nen Seiten dafür verantwort­lich gemacht wurde, stand ihrem Mann auf seinem letzten Lebensweg zur Seite. Ihr widmete er auch die im November 2009 erschienen­e Taschenbuc­hausgabe seiner Erinnerung­en „Vom Mauerfall zur Wiedervere­inigung“: „Für Maike, ohne die ich das Jahr 2009 nicht erlebt hätte.“

Das berühmte Treffen mit Strickjack­e und Pullover

 ??  ?? Auf dem Höhepunkt seiner politische­n Karriere: Helmut Kohl bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng im Februar 1990 in Erfurt.
Auf dem Höhepunkt seiner politische­n Karriere: Helmut Kohl bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng im Februar 1990 in Erfurt.

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