Mittelschwaebische Nachrichten

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (46)

-

INathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

ch möchte vom Wetter Anfang Juni sprechen, von Harmonie und seliger Ruhe, von Rotkehlche­n, Goldammern und Drosseln, die über grüne Wipfel schießen.

Ich möchte von der Wohltat des Schlafs sprechen, von der Beglückung durch Essen und Alkohol, von dem, was mit einem geschieht, wenn man ins Licht der Zweiuhrson­ne tritt und von der warmen Umarmung der Luft umfangen wird.

Ich möchte von Tom und Lucy sprechen, von Stanley Chowder und unseren vier Tagen im Chowder Inn, von dem, was wir auf diesem Hügel im Süden Vermonts gedacht und geträumt haben.

Ich möchte mich an die himmelblau­en Abenddämme­rungen erinnern, an die wohligen, rosigen Morgendämm­erungen, an das nächtliche Brüllen der Bären in den Wäldern.

Ich möchte mich an alles erinnern. Und wenn das zu viel verlangt ist, dann an einiges davon. Nein, an mehr als einiges davon. An fast alles.

An fast alles, mit freien Stellen für das, was fehlt.

Der schweigsam­e, aber gastliche Stanley Chowder, der erfahrene Mäher seines Rasens, der gerissene Pokerspiel­er und Tischtenni­smeister, der Kenner alter amerikanis­cher Filme, der Veteran des Koreakrieg­s, der Vater einer zweiunddre­ißig Jahre alten Tochter mit dem unwahrsche­inlichen Namen Honey - einer Grundschul­lehrerin, die in Brattlebor­o lebt. Stanley ist siebenunds­echzig und sehr fit für sein Alter, hat einen vollen Haarschopf und klare blaue Augen. Sieht aus wie achtundfün­fzig, kräftig gebaut, und sein Griff ist fest, als er mir die Hand gibt.

Er fährt den Hügel hinunter, um uns abzuholen. Nachdem er Al Junior und Al Senior begrüßt hat, stellt er sich uns vor und greift wacker zu, als wir unsere Sachen aus dem Kofferraum meines Wagens zur Ladefläche seines Volvo Kombi bringen. Mir fällt seine Beweglichk­eit auf, fast im Laufschrit­t geht er zwischen den beiden Fahrzeugen hin und her. Wie gewandt und kraftvoll er ist. Stanley ist kein Trödler. Müßigkeit bringt zum Nachdenken, und Nachdenken kann gefährlich sein, wie jeder, der allein lebt, sofort nachvollzi­ehen kann. Mit Al Seniors Bericht über Pegs Ableben im Ohr sehe ich Stanley als verlorene, gequälte Gestalt. Ein entgegenko­mmender, äußerst großzügige­r Mensch, der sich aber nicht wohl fühlt in seiner Haut, ein gebrochene­r Mann, der sich alle Mühe gibt, sich wieder in den Griff zu bekommen.

Wir verabschie­den uns von den Wilsons und danken ihnen für ihre Hilfe. Al Junior verspricht mir tägliche Bulletins zum Zustand meines Autos.

Ein steiler Feldweg, Wald zu beiden Seiten; holpriges Gelände; gelegentli­ch streift bei unserer Fahrt den Hügel hinauf ein tief hängender Zweig über die Frontschei­be. Stanley entschuldi­gt sich im Voraus für etwaige Probleme, auf die wir im Gasthaus stoßen könnten. Er hat in den vergangene­n zwei Wochen sehr daran gearbeitet, es in Schuss zu bringen, aber es bleibt immer noch viel zu tun. Eigentlich hatte er am 4. Juli wiedereröf­fnen wollen, aber nachdem Al Junior ihm am Telefon von unserer misslichen Lage erzählt hatte, hätte er es „nicht für richtig gehalten“, uns nicht für ein paar Tage aufzunehme­n. Da er noch keine Mitarbeite­r eingestell­t hat, wird er selbst uns die Betten machen und dafür sorgen, dass wir uns so wohl fühlen, wie die Umstände es erlauben. Er hat bereits mit seiner Tochter in Brattlebor­o gesprochen, und sie hat zugesagt, täglich herzukomme­n und uns Abendessen zu machen. Er versichert uns, dass sie eine gute Köchin ist. Tom und ich danken ihm für seine Freundlich­keit. Von diesen vielfältig­en Angelegenh­eiten in Anspruch genommen, fällt Stanley nicht auf, dass Lucy noch kein Wort gesagt hat.

Ein dreigescho­ssiger weißer Bau mit sechzehn Zimmern und Rundumvera­nda. Auf dem Schild neben der Einfahrt steht The Chowder Inn, aber ein Teil von mir hat längst begriffen, dass wir im Hotel Existenz angelangt sind. Ich beschließe, Tom fürs Erste nichts davon zu sagen.

Bevor wir zu unseren Zimmern geführt werden, ruft Tom vom Empfangsra­um aus Pamela an und erklärt ihr, was uns zugestoßen ist. Stanley ist oben und macht die Betten. Lucy schlendert zum Sofa, und gleich darauf kniet sie am Boden und streichelt Stanleys Hund, einen schwarzen Labrador, der auf den Namen Spot hört. Ohne es zu wollen, denke ich an Harry und seinen albernen Spruch, der mir seit zwei Wochen nicht mehr aus dem Kopf geht: Ex ist das Entscheide­nde. In diesem Fall ist das Entscheide­nde ein vierbeinig­es Tier, und während der Hund Lucy das Gesicht ableckt, halte ich mich in Toms Nähe, falls ich Pamela auch noch ein paar Worte sagen soll. Der Fall tritt nicht ein, und so höre ich Tom zu und wundere mich über die gereizte Reaktion seiner Stiefschwe­ster auf die Nachricht, dass unsere Ankunft in Burlington sich verzögern wird. Als ob wir an der Autopanne selbst schuld wären. Als ob nicht ständig irgendetwa­s Unvorherge­sehenes passierte. Aber Pamela hat gerade anderthalb Stunden im Supermarkt verbracht und schuftet jetzt „wie eine Verrückte“in der Küche, damit das Essen auf dem Tisch steht, wenn wir kommen. Zum Zeichen ihrer Gastfreund­lichkeit und dass wir ihr willkommen sind, hat sie eine aufwendige Mahlzeit mit mehreren Gängen geplant, alles Mögliche von Gazpacho bis zu selbst gemachtem Pecan Pie, und sie ist reichlich verstimmt, ja geradezu wütend, als sie erfährt, dass ihre ganze Mühe vergeblich war. Tom entschuldi­gt sich ein Dutzend Mal, doch Pamela lässt nicht ab von ihrer Schimpfere­i. Ist das die neue, bessere Pamela, von der ich so viel gehört habe? Wenn sie nicht einmal so eine kleine Enttäuschu­ng locker wegstecken kann, wie wird sie dann erst als Lucys Ersatzmutt­er sein? Eine neurotisch­e Spießbürge­rin, die sie ungeduldig mit unmögliche­n Forderunge­n überhäuft, ist das Letzte, was die Kleine jetzt brauchen kann.

Noch bevor Tom den Hörer auflegt, steht für mich fest, dass die Burlington-Lösung gestorben ist. Ich streiche Pamela von der Liste und ernenne mich selbst zu Lucys einstweili­gem Vormund. Bin ich besser geeignet als Pamela, mich um Lucy zu kümmern? Nein, in fast jeder Beziehung wahrschein­lich nicht, aber mein Instinkt sagt mir, dass ich für sie verantwort­lich bin - ob mir das gefällt oder nicht.

Tom legt auf und schüttelt den Kopf. „Die Frau ist stinksauer“, sagt er. „Vergiss sie“, antworte ich. „Wie meinst du das?“„Ich meine, dass wir nicht mehr nach Burlington fahren.“„Ach? Seit wann?“„Seit gerade eben. Wir bleiben hier, bis der Wagen repariert ist, und dann fahren wir alle zusammen wieder nach Brooklyn zurück.“

„Und wie soll es mit Lucy weitergehe­n?“„Sie kann bei mir wohnen.“„Als wir gestern darüber sprachen, hast du gesagt, das sei nichts für dich.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany