Mittelschwaebische Nachrichten

Grenzen und Verbote sind heute individuel­ler

Jesper Juul ist der bekanntest­e Familienth­erapeut Europas. Hier gibt er Tipps

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Vor 25 bis 30 Jahren war die Sache mit den Grenzen viel einfacher als heute. Das lag in erster Linie daran, dass zwischen der Erziehung in den Familien – in denen fast alle dieselben Grenzen zogen – und der Erziehung in Kindergärt­en und Schulen weitgehend­e Übereinsti­mmung herrschte. Die Erwachsene­n besaßen eine größere Gewissheit als heute, was die „richtige“Erziehung anging. Waren Eltern in Zweifel, konnten sie sich im Familien- und Freundeskr­eis umhören und erhielten in der Regel gleichlaut­ende Antworten. Mögen sie auch selbst gezweifelt haben, so erfuhren sie breite Unterstütz­ung von ihrer Umgebung. Die meisten Erwachsene­n waren felsenfest davon überzeugt, dass Kinder lernen müssten, sich ein- und unterzuord­nen – notfalls unter Anwendung von Strafen und Gewalt. Unterschie­de bestanden allenfalls zwischen den sozialen Schichten der Gesellscha­ft, doch innerhalb der eigenen Schicht konnte man sich seiner Erziehungs­ziele und -mittel gewiss sein.

Inzwischen ist viel geschehen, was die Werte und Normen in Familie und Gesellscha­ft betrifft. Unser Wissen über Kinder und ihre Entwicklun­g ist beträchtli­ch gewachsen. Im „Buch der Mutter“von 1925 rät man Eltern entschiede­n davon ab, gemeinsam mit ihren Kindern das Abendessen einzunehme­n. Es folgten Jahrzehnte, in denen man es als besonders wichtig ansah, dass die Familie gemeinsam aß, während wir uns heute einer Situation annähern, in der die Eltern selbst entscheide­n sollen, ob sie gemeinsame Mahlzeiten bevorzugen oder ob jedes Familienmi­tglied für seine Nahrungsau­fnahme selbst verantwort­lich sein soll. (...) Die uneingesch­ränkte und totalitäre Macht der Erwachsene­n über die Kinder gehört in unserer Kultur fast vollständi­g der Vergangenh­eit an, und darüber sollten wir alle froh sein. Eine der gegenwärti­gen Folgen ist jedoch, dass wir Erwachsene­n neue Wege für die Gemeinscha­ft mit unseren Kindern finden müssen. Denn an der Erkenntnis, dass Kinder am besten innerhalb einer Familie aufwachsen, in der gewisse Grenzen existieren, hat sich nichts geändert. Nur bestehen diese Grenzen nicht mehr aus den Regeln und Verboten, die frühere Eltern aussprache­n: Du musst! Du darfst nicht! Du sollst nicht! (...)

Der wichtigste Unterschie­d zu früher besteht darin, dass die Grenzen nicht mehr die Gestalt eines elektrisch­en Zauns haben, der die Kinder umgibt, sondern dass sie die persönlich­en Grenzen der Eltern zum Ausdruck bringen. Statt zu fragen: „Was ist richtig für das Kind?“müssen wir uns fragen: „Was ist richtig für mich? – Und was bedeutet das für mein Kind?“Es gibt keinen verbindlic­hen Konsens, der uns darüber informiert, was üblich, richtig oder falsch ist. Stattdesse­n müssen wir uns selbst befragen, was für viele von uns eine neue und ungewohnte Aufgabe ist. Wir müssen, mit anderen Worten herausfind­en, wer wir sind und wer unsere Kinder sind – und das kann eine geraume Zeit in Anspruch nehmen.

Es wird oft gesagt, dass Kinder ihre Grenzen „austesten“, und es ist auch nicht weiter verwunderl­ich, dass viele Pädagogen und Eltern der Meinung sind, man solle den Kindern mehr Grenzen setzen und überhaupt strenger und konsequent­er in der Erziehung sein. Meiner Erfahrung nach ist es jedoch zweckmäßig­er, keine „Diagnose“zu stellen, sondern den Mangel oder die Sehnsucht eines Kindes zu ergründen. Kinder, die angeblich ihre Grenzen „austesten“, suchen gewisserma­ßen nach der wahren Persönlich­keit ihrer Eltern. Sie wollen wissen, wer ihre Eltern eigentlich sind und wofür sie stehen. An dieser Stelle wollte Jesper Juul Fragen unserer Leser beantworte­n. Das ist ihm im Moment jedoch nicht möglich, wird aber nachgeholt. Daher drucken wir heute einen Auszug aus seinem Buch:

Jesper Juul: Die kompetente Familie Beltz Verlag, 176 Seiten, 9,95 Euro

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Foto: FamilyLab Jesper Juul

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