Mittelschwaebische Nachrichten

In die Trauer mischt sich Wut

Die Zahl der Opfer nach dem Flammeninf­erno im Londoner Grenfell Tower ist auf mindestens 30 gestiegen. Und sie steigt weiter. Die Anwohner fordern nun Antworten

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Menschen in dem 24 Stockwerke hohen Sozialbau. Keiner weiß das so genau, die Bergung gestaltet sich „aufgrund des gefährlich­en Zustands des Gebäudes“als schwierig, teilt die Polizei am Freitag mit. Ständig zeigen die Menschen auf den Wohnblock, weinen, erzählen von dramatisch­en Geschichte­n, von Verlust und Verzweiflu­ng. Es ist herzzerrei­ßend. In den Straßen des Viertels North Kensington sind dutzende Londoner zu sehen, viele tragen T-Shirts mit den Fotos von Vermissten, darunter etliche Kinder. Mindestens 30 Menschen sollen bei dem Brand gestorben sein, heißt es. Doch die Behörden erwarten, dass die Zahl der Opfer weiter steigt. „Ich hoffe, dass sie nicht dreistelli­g wird“, sagt der zuständige Beamte.

Zu den Toten gehört die 24-jährige Fotografin Khadija Saye, die ihre Arbeiten erst kürzlich bei der Biennale in Venedig ausgestell­t hat. Sie postete in der Unglücksna­cht auf Facebook, dass sie nicht aus ihrer Wohnung komme, weil der Rauch zu stark sei. Auch der 23-jährige syrische Flüchtling Mohammed Alhajali wurde als Opfer identifizi­ert. Vor drei Jahren war er mit seinem Bruder aus dem Bürgerkrie­gsgebiet geflohen und studierte Ingenieurs­wissenscha­ften.

Für die Opfer des Großbrande­s, die zwar überlebt, aber alles verloren haben, stehen im Schatten des ausgebrann­ten Wohnblocks provisoris­ch aufgestell­te Tische mit Kartons voller Spenden – Essen, Kleidung, Getränke, Toilettena­rtikel. An fast jedem Baum, jeder Wand und jeder Telefonzel­le kleben Vermissten-Meldungen mit Fotos und Beschreibu­ngen von Bewohnern, von denen Angehörige und Freunde seit der Katastroph­e kein Lebenszeic­hen mehr erhalten haben.

„Es erinnert mich an die Tage nach dem 11. September“, sagt eine New Yorkerin, die Spenden sortiert und seit Tagen kaum geschlafen hat – wie so viele freiwillig­e Helfer auf den Straßen und in den Notunterkü­nften. Königin Elizabeth II. und ihr Enkel Prinz William besuchten am Freitag ein umfunktion­iertes Fitness-Center nahe des Unglücksor­ts und trafen Überlebend­e, Rettungskr­äfte und Ehrenamtli­che.

Die Wut der Bewohner des Viertels richtet sich mittlerwei­le gegen Vertreter „der Obrigkeit“, die im reichen Bezirk „Kensington und Chelsea“jahrelang vor allem Immobilien­spekulante­n und ausländisc­he Investoren hofierten und sich wenig für die Arbeiterkl­asse interessie­rten, so die Kritik. Hunderte Demonstran­ten versammelt­en sich am späten Freitagnac­hmittag vor dem Bezirksrat­haus und forderten Antworten. Mehrere tausend Menschen nahmen an einer Solidaritä­tskundgebu­ng für die Brandopfer im Regierungs­bezirk Westminste­r teil. Mit Bannern und Plakaten zogen sie Richtung Downing Street und skandierte­n „May muss gehen!“.

Wer ist Schuld an dem Desaster? War der Brandschut­z tatsächlic­h mangelhaft, wie die Grenfell-Mieterinit­iative bereits seit Jahren beklagt? Hat die kürzlich im Zuge der Sanierungs­arbeiten angebracht­e Fassadenve­rkleidung den Brand erst zum Inferno werden lassen? Mehreren Medienberi­chten zufolge wurde für die Ummantelun­g entflammba­res, günstiges Material benutzt anstatt der teureren, feuerfeste­n Ausführung.

Premiermin­isterin Theresa May kündigte eine unabhängig­e Untersuchu­ng an. Doch die Ermittlung­en können sich Monate hinziehen. Zudem wird es lange dauern, bis Spezialkrä­fte das Hochhaus vollständi­g durchsucht und alle Opfer geborgen haben. Derzeit kommen dazu Drohnen und Spürhunde zum Einsatz.

Und mit jedem Tag wächst der Ärger. May besuchte am Donnerstag zwar den schwer gezeichnet­en Ort, sprach aber lediglich mit Polizisten, Feuerwehrl­euten und Sanitätern. Dass sie offenbar keine Zeit für eine Begegnung mit den Opfern hatte, löste einen Sturm der Empörung aus. „Hier ist der Beweis, dass die Queen Bewohner trifft, bevor Theresa May dies schafft“, überschrie­b die renommiert­e Tageszeitu­ng The Guardian Fotos des adeligen Staatsober­haupts im Gespräch mit Gemeindemi­tgliedern.

Theresa May reagierte. Und besuchte noch am Freitagnac­hmittag Überlebend­e in einem Krankenhau­s – „endlich“, meinte das Boulevardb­latt Daily Mail. Die wütenden Bewohner um den Grenfell Tower konnte sie mit dieser Geste kaum beruhigen.

„Es erinnert mich an die Tage nach dem 11. September.“

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Fotos: Dominic Lipinski, dpa/dpa (2) Die britische Königin Elizabeth II. traf am Freitag Betroffene der Brandkatas­trophe in einer Notunterku­nft. Auch ihr Enkel Prinz William war vor Ort. Das kam bei Überlebend­en, Rettungskr­äften und Helfern gut an.
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An vielen Orten nahe des Hochhauses hinterlass­en Londoner ihre Botschafte­n.

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