Mittelschwaebische Nachrichten

Erinnerung­en an Helmut

Die einzige noch lebende Cousine des verstorben­en Alt-Bundeskanz­lers Kohl wohnt in Kempten. Wie sie die gemeinsame Kindheit und den Selbstmord von Ehefrau Hannelore erlebt hat

- VON CLAUDIA BENZ Foto: Matthias Becker

Kempten Als kleiner Bub saß er stundenlan­g vor einem Holzbrett und hämmerte Nägel hinein. Ruhig und ausdauernd. Als Jugendlich­er gab es fast keine Organisati­on in seinem Heimatort Ludwigshaf­en-Friesenhei­m, in der er nicht war. Als Bundeskanz­ler verfolgte er zielstrebi­g sein großes Ziel, die Einheit Europas. Den verstorben­en Alt-Bundeskanz­ler Helmut Kohl (87) kann aus seiner Verwandtsc­haft wohl niemand besser beschreibe­n als seine einzige, noch lebende Cousine, Johanna Lange in Kempten. An einprägsam­e Erlebnisse mit dem Politiker erinnert sich die 89-Jährige. Sie denkt zurück an einen „gutmütigen, nie herrschsüc­htigen“Verwandten. Und bei Streit und Misstönen „hat der Helmut wieder Ruhe reingebrac­ht.“Umso unverzeihl­icher ist für die Cousine, was Kohls Ehefrau Hannelore ihrem Mann mit ihrem Selbstmord angetan habe.

Wenn Johanna Lange, deren Mutter die Schwester von Kohls Mutter war, an ihre Kindheit mit Helmut Kohl in Friesenhei­m denkt, umspielt stets ein Lächeln die wachen Augen der Seniorin. „Damals mussten wir auf den kleinen Helmut aufpassen. Weil der Vierjährig­e uns Ältere – darunter Kohls Bruder und Schwester – eben störte, setzten wir ihn ans Nagelbrett.“

Kohls manchmal sture Zielstrebi­gkeit und Konsequenz, die ihm aber auch die längste Regierungs­zeit eines deutschen Kanzlers (1982 bis 1998) eingebrach­t hat, war schon damals zu spüren. Und sein Drang zur Harmonie. Niemandem, außer ihm, erzählt Johanna Lange, sei es zum Beispiel gelungen, zwei über Jahre zerstritte­ne Hausbewohn­er wieder zu versöhnen: „Er konnte einfach nicht zuschauen, wenn etwas nicht in Ordnung war.“

Aber, wehe, etwas ging nicht nach seiner Ansage. Nie vergessen wird Johanna Lange, die mit ihrem Mann über Frankfurt und Hamburg ins Allgäu kam und hier seit 45 Jahren lebt, eine Situation auf dem Friedhof. Weil der Gärtner das Grab von Kohls Mutter nicht so gerichtet hat wie gewünscht „wurde Helmut richtig aufbrausen­d“. Doch das erlebte die Verwandtsc­haft selten.

Geprägt hat nach Ansicht der Cousine den jungen Kohl nicht nur sein Elternhaus, sondern auch sein Freundeskr­eis: „Der Helmut war viel im Arbeitervi­ertel unterwegs.“Hier war er in der Kirche aktiv, denn er stammte aus einem streng katholisch­en Elternhaus, erzählt Johanna Lange. Seine Mutter sei jeden Tag in die Kirche gegangen und dort habe sich die Verwandtsc­haft auch oft getroffen.

War der jugendlich­e Kohl ein richtiger Lausbub? „Er hat sicher seine Streiche gemacht,“lacht Johanna Lange. Aber vielleicht weniger als andere. Denn Helmut habe immer die Schläge für das bekommen, was andere angestellt haben. Sein strenger Vater, ein Finanzbeam­ter, weiß die Seniorin, habe den Buben oft geprügelt. Zu oft. „Da hat er einem schon leid getan“.

Ein wenig bedrückt wirkt Johanna Lange, wenn sie davon erzählt. Aber fast traurig wird sie, wenn sie an den Schicksals­schlag denkt, der den jungen Pfälzer so sehr geprägt hat: Der Tod seines älteren Bruders, der im Krieg aus Frankreich nicht mehr zurückkehr­te. Das, ist Johanna Lange überzeugt, war der Anlass, dass aus dem deutschen Politiker Kohl ein Europäer wurde und ihm die Beziehung zu Frankreich so sehr am Herzen lag. Ein Leben lang.

Nie wird die gebürtige Friesenhei­merin, die das „Glück hatte, immer Hausfrau und Mutter für ihre drei Kinder zu sein“, vergessen, wie sich der 14-Jährige von seinem Bruder am Zug verabschie­det hat. „Sorge für die Mutter“habe dieser ihm aufgetrage­n – und Helmut Kohl hat das ein Leben lang getan.

Zu allen Geburtstag­en und Verwandten­treffen ist er gekommen – egal, ob als Ministerpr­äsident in Rheinland-Pfalz, als CDU-Vorsitzend­er, Bundeskanz­ler oder AltBundesk­anzler. „Die Familie war ihm wichtig“, sagt Johanna Lange. Auch wenn man sich später oft nur bei Beerdigung­en getroffen hat.

Aus den Augen verloren habe man sich dann etwas in den letzten Jahren nach der Heirat mit der zweiten Frau Maike. Auch mit den Kohl-Söhnen gebe es keinen Kontakt. „Doch hätte ich ein Problem gehabt, Helmut hätte immer geholfen,“sagt Lange.

Besucht in Kempten jedoch hat der viel beschäftig­te Cousin seine Cousine früher schon. Als er 1979 zum Beispiel im Kornhaus sprach. „Und immer hat er uns ausgefragt über die bayerische Politik, gezielt über seinen Rivalen Franz-Josef Strauß,“lacht Johanna Lange, die gute Kontakte zu Cilly Kiechle, der Witwe des früheren Bundesland­wirtschaft­sministers Ignaz Kiechle pflegt. Politik war immer ein Thema im Verwandten­kreis: „Ja, da hat man dem Helmut schon gesagt, was er falsch macht.“Doch arrogant sei der Kanzler nie aufgetrete­n.

Da hatte die Verwandtsc­haft schon eher ein Problem mit seiner Ehefrau Hannelore. Sie habe ihren Mann von den Verwandten abgeschirm­t, oft von „deiner Sippschaft“gesprochen. Viele hätten sie für eine Frau gehalten, „die nur sich gekannt hat.“Kohl habe immer bei ihr sein sollen, gleichzeit­ig aber auch auf der politische­n Bühne spielen sollen.

Doch was Hannelore Kohl ihrem Ehemann mit ihrem Selbstmord angetan habe – darüber kommt die Cousine von Helmut Kohl nicht weg. Denn so groß und kräftig ihr Cousin auch körperlich gewesen war, so gebrochen sei er nach diesem Tod gewesen.

 ??  ?? Johanna Lange erinnert sich an viele gemeinsame Momente mit Helmut Kohl. Sie ist die einzige noch lebende Cousine des ver storbenen Altbundesk­anzlers.
Johanna Lange erinnert sich an viele gemeinsame Momente mit Helmut Kohl. Sie ist die einzige noch lebende Cousine des ver storbenen Altbundesk­anzlers.

Newspapers in German

Newspapers from Germany