Mittelschwaebische Nachrichten

Kässpatzen und Leitkultur

In Oberstdorf und im Kleinwalse­rtal wurde von Profis und Liebhabern der Weisheit nachgedach­t. Und auf einer Berghütte ein umstritten­er Begriff einhellig abgelehnt

- VON RAINER SCHMID

Mittelberg im Allgäu Ort des Geschehens: die Berghütte auf der Sonna-Alp. Zwischen Himmel und Erde, ganz weit hinten im Kleinwalse­rtal. Leicht zu erreichen mit dem Zaferna-Sessellift vom Dörfchen Mittelberg aus. Zeitpunkt: Samstag, letzter Abend des dreitägige­n ersten Festivals namens „Philosophi­e in den Allgäuer Alpen“und elftes Zusammentr­effen der teilnehmen­den Köpfe und Köpfchen. Mit Kässpatzen­essen und geheimnist­rächtigem Programmth­ema: „Vergessene Probleme unseres Zusammenle­bens“.

Rund zwanzig erwachsene Normalbürg­er, ein Dutzend Oberstufen­schüler aus Allgäuer Gymnasien und eine gute Handvoll Philosophi­e-Professore­n und -Professori­nnen sind es, die sich an die gedeckten Tische in der Hüttenstub­e setzen.

Eine Art Arbeitsess­en kündigt sich an, wie bei Politikern auf Staatsbesu­ch. Professor Ekkehard Martens teilt schon mal weiße Papierblät­ter aus, für jeden der sechs Tische eines. An jedem Tisch sitzt auch ein Profi-Philosoph oder eine Profi-Philosophi­n.

„Diskutiere­n Sie den Begriff Leitkultur!“, lautet die Aufgabe für alle von Professor Martens. Aha, denkt sich der Beobachter, das schließt ja nahtlos und aktuell an Professor Bettina Bussmanns Nachmittag­sseminar an. Da lautete die Themenfrag­e „Was verbindet und was trennt Kulturen?“.

Also, auf geht’s. An die Kässpatzen, den Salat und die Leitkultur. Stichworte für die Ergebnisru­nde sollen notiert werden. Konkrete Ansatzpunk­te dafür liefern einige wörtliche Zitate aus Innenminis­ter de Maizières „Leitkultur für Deutschlan­d“. „Sie können auch dafür sein …“stachelt Martens leicht ironisch den Austausch der Argumente an.

Und heiß geht’s her im Stimmengew­irr: Verhaltens­regeln für alle? – Wer definiert die? – Wer ist überhaupt „wir“? Medien, Talkshows fördern und feiern Extremtype­n, Streithähn­e – Leben im Zeitalter des Empörialis­mus – Gesellscha­ft entmündigt – Einwanderu­ngsgesetz versäumt – Was läuft auf Youtube? – Intoleranz, Ignoranz und Vorurteile statt Kultur…

Nach einer hitzigen Stunde werden die Diskussion­sergebniss­e vorgestell­t. Sie laufen auf einhellige Ablehnung des umstritten­en Begriffs Leitkultur hinaus: Zwar habe ihn der Syrer Bassam Tibi 2009 in guter Absicht für Europa erfunden, doch sinnvoller sei die Orientieru­ng an den UN-Menschenre­chten, am Grundgeset­z, an einem längst fälligen Einwanderu­ngsgesetz.

Aber jetzt greift Professor Hans Joas, der diesjährig­e MeckatzerP­reisträger dieses Philosophi­e-inden-Alpen-Projekts, in die abschließe­nde Diskussion ein: Philosophi­sch sei dieser ganze politische HüttenMein­ungsaustau­sch erst dann, wenn nach dem „ernsten Kern“, nach den Werten in diesem „total unbrauchba­ren Begriff Leitkultur“gefragt würde!

Schock bei den Schülern: Wäre alles vergeblich gewesen? „Nein!“ruft Projektlei­ter Rainer Jehl in die Runde. „Eine Sternstund­e philosophi­scher Auseinande­rsetzung haben wir hier miterlebt – gerade samt der Kritik von Professor Joas!“

Wer mag widersprec­hen?

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Foto: Rainer Schmid Drei Gründungsm­itglieder von „Philoso phie in den Allgäuer Alpen“: Rainer Jehl (links), Stefanie Fuchs und Ekkehard Martens.

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