Mittelschwaebische Nachrichten

Der Verkauf der eigenen Haut

Der Schweizer Tim Steiner verdient sein Brot damit, dass er seine Tätowierun­gen lebend zeigt – und nach dem Tod. Sie stammen von einem internatio­nal respektier­ten Künstler

- VON RÜDIGER HEINZE

Basel Wenn Tim Steiner, jetzt 40, gestorben ist, wird ihm die Haut vom Oberkörper gezogen, gegerbt, gerahmt und aufgehängt.

So steht’s geschriebe­n und so ist’s unterzeich­net in einem 35-seitigen Vertrag – eineinhalb Jahre lang ausgearbei­tet von einer deutschen Anwaltskan­zlei.

Vertragspa­rtner sind: besagter Tim Steiner, ein Schweizer Bürger, dazu Wim Delvoye, dieser internatio­nal respektier­te belgische Künstler, Jahrgang 65, sowie Rik Reinking, ein Hamburger Kunstsamml­er.

Reinking ließ 150 000 Euro springen für die Haut Tim Steiners, die er – bei üblicher Lebenserwa­rtung – in etwa 35 Jahren in Empfang nehmen kann. Dann ist er selbst ebenfalls Mitte siebzig. Überliefer­t ist, dass Reinking sich für den „Deal“gerade deswegen entschied, weil er darauf hingewiese­n wurde, dass das Konzept dieses Kunstproje­kts ethisch durchaus diskutabel ist – um es mal vorsichtig auszudrück­en. Aber in erster Linie freilich ist die Haut begehrt von ihm, weil sich darauf der Künstler Wim Delvoye verewigt hat. Eigenhändi­g und signiert sogar, in der Hauptsache aber durch eine große Tätowierun­g, die nach einer Vorlage von Wim Delvoye in die Haut geritzt wurde. Steiner selbst erklärt, er habe „keine drei Sekunden für die Zusage gezögert“, als ihm das Projekt angetragen worden war.

Von den 150 000 Euro, die der Haut-Erbe Reinking 2006 springen ließ, erhielt der Tätowierer 50 000 Euro, Wim Delvoye 50 000 und Tim Steiner 50 000. Aber dies – so ist mittlerwei­le klar – bleibt nicht der gesamte Lohn für Tim Steiner. Vor elf Jahren verkaufte er seine Haut, jetzt trägt er sie erst einmal lebend gewinnbrin­gend zu Markte – wofür er sich allerdings „wie ein Mannequin“in Form zu halten hat. Im Vertrag ist auch festgehalt­en, dass Steiner – bei Bedarf – verpflicht­et ist, sich viermal im Jahr dem Kunstpubli­kum in Ausstellun­gen mehrwöchig zu zeigen – freilich gegen Honorar.

Der Bedarf besteht. Tim Steiner ist zurzeit internatio­nal auf drei Jahre hin ausgebucht. Er kann, wie er erklärt, „davon leben, wenn auch nur einfach“. Aber auch folgender Fall ist in einem Vertragspa­ssus festgehalt­en: Sollte Wim Delvoye einmal nicht mehr so gefragt sein als zeitgenöss­ischer Künstler oder sollte er irgendwann einmal nicht mehr künstleris­ch zu seinem TätowierWe­rk stehen und dessen (lebende) Präsentati­on nicht länger wollen, dann hat es für Tim Steiner ein Ende mit aller Zurschaust­ellung gegen Honorar.

Dieser Tage sitzt Steiner mit wunderbare­m Blick über den Rhein auf einem Sockel im Tinguely-Museum von Basel. Und das Publikum kann in einer Wim-Delvoye-Werkschau staunen, welch stark schwankend­e künstleris­che Qualitäten da aufeinande­rtreffen. Die Tätowierun­g: nur das Erwartbare, das Klischee, das, was im Schwimmbad jeder sieht. Totenkopf, Madonna, Rosenblüte­n. Gekonnt tätowiert, aber handwerkli­ch nicht überragend. Ein Allerwelts­bild.

Dagegen die restliche Werkschau Delvoyes: das Unerwartet­e, die originäre Überraschu­ng, das, worauf der durchschni­ttliche Schwimmbad­besucher ganz gewiss nicht stößt. Hervorrage­nd, allein handwerkli­ch betrachtet.

Wim Delvoye hat sich einen respektier­ten Namen dadurch geschaffen, dass er alten Stil und Gerätschaf­ten der Moderne zusammenzw­ang. Dass er Epochen-Ornamentik,

Totenkopf, Madonna und Rosenblüte­n Ein Doppel Spiralstra­ng von Gekreuzigt­en

Tradition und präzises Handwerk auf die Dinge unseres industriel­len Alltags überträgt. Dass er einen Zementlast­er oder eine Betonmisch­maschine in eine neogotisch­e „Kathedral“-Skulptur aus lasergesch­nittenem Stahl verwandelt. Dass er Bügelbrett­er mit alten Wappen aus der Heraldik verziert. Dass er Camping-Gasflasche­n schön holländisc­h mit den Motiven von Delfter Kacheln überzieht. Eine gekonnte Fortsetzun­g des Surrealism­us, den mancher schon fortsetzen wollte – und scheiterte.

Die Überhöhung des Banalen und die Trivialisi­erung des überhöhten Stils wird in einer erstaunlic­hen Balance gehalten. Wim Delvoye gelingt, was so vielen guten unter den Künstlern gelingt: die Überwindun­g der Tradition durch die Aneignung der Tradition.

Seine eindrucksv­ollste Skulptur im Tinguely-Museum Basel aber ist: ein mehrere Meter langer, spiralarti­g verschlung­ener Doppelstra­ng eines Kruzifix am laufenden Band. Die Doppelheli­x des Lebens trifft auf eine Doppelheli­x des (Opfer-)Todes. Außerorden­tlich.

Laufzeit bis 1. Januar 2018, Öffnungsze­iten: Di. So. von 11 bis 18 Uhr. Katalog: 48 Schweizer Franken

 ?? Foto: © 2017 ProLitteri­s, Zurich / Wim Delvoye ?? Tim Steiner zeigt im Tinguely Museum in Basel jene Tätowierun­gen, die Wim Delvoye für seinen Oberkörper entworfen hat.
Foto: © 2017 ProLitteri­s, Zurich / Wim Delvoye Tim Steiner zeigt im Tinguely Museum in Basel jene Tätowierun­gen, die Wim Delvoye für seinen Oberkörper entworfen hat.
 ?? Foto: Rüdiger Heinze ?? Kruzifixe am laufenden Spiralband in Doppelheli­x Form. Skulptur von Wim Delvoye im Tinguely Museum Basel.
Foto: Rüdiger Heinze Kruzifixe am laufenden Spiralband in Doppelheli­x Form. Skulptur von Wim Delvoye im Tinguely Museum Basel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany