Mittelschwaebische Nachrichten
Der Kurier des Bäckers
Karl-Heinz Schuster war über 38 Jahre die Zuverlässigkeit in Person und hat Semmel und Brote zu den Menschen gebracht. Gut 560000 Kilometer ist er insgesamt gefahren. Das reicht 14-mal um die Erde. Wir haben ihn begleitet
Günzburg Leinheim Es ist ein gelungenes Ablenkungsmanöver Donnerstagfrüh auf dem Hof der Bäckerei Hurler in Leinheim: Karl-Heinz Schusters Nachfolger kramt im Frontbereich des Lieferwagens und murmelt etwas von „Kühler“und „Wasser“. Das lenkt Schusters ganze Aufmerksamkeit auf das, was vor ihm geschieht. Und es passt ihm nicht so recht, denn er will los. Um 6.50 Uhr gibt es nur eines für ihn – alternativlos – und das seit achtunddreißigeinhalb Jahren: Abfahrt. Schließlich warten Kunden auf ihn. Sein bewährter Tourplan ist minutengenau ausgetüftelt und zeigt ihm an, wann er wo wie lange stehen soll mit dem mobilen Brotshop der Bäckerei. Und jetzt wird vor ihm rumgefuhrwerkt. Dabei spielt die Musik auf der hinteren Seite des Fahrzeugs, wo Mitarbeiter Luftballons und ein Plakat mit unmissverständlicher Botschaft anbringen: „Heute ist die letzte Fahrt!“
Fünfmal in der Woche hat sich Karl-Heinz Schuster, den die Kunden nur Heinz nennen, auf den Weg gemacht. Günzburg, Denzingen, Wasserburg, Bubesheim, Deffingen, Kleinkötz, Ebrach, Deubach und noch viele weitere kleine Ortschaften hat er angefahren, um dort frische Semmel, duftendes Brot und Presssack anzubieten, der an einem Haken seitlich von ihm baumelt. Vielleicht darf es ja eine Zeitschrift sein? Das Echo der Frau wartet jedenfalls auf eine Abnehmerin.
In all den Jahren ist fast nie etwas passiert. Nur einmal hat er einen kleinen Unfall verursacht – als er vergessen hatte, die große seitliche Klappe, die einen Blick in den sechs Quadratmeter kleinen Tante-Emma-Laden freigibt, nach dem Verkauf auch wieder mithilfe der Hydraulik zu schließen. Schuster fuhr an und kurz danach hatte die offene Klappe mit einem Masten am Straßenrand eine ungleiche Begegnung: „Rrrrrrrrtttttttt“. 1000 Euro Schaden. Es hätte schlimmer kommen können.
An einen Plattfuß erinnert sich der „rollende Heinz“. Das war an der ersten Verkaufsstation und liegt einige Jahre zurück. Ein Anruf genügte. Zehn Minuten später war ein Mitarbeiter der Autowerkstatt vor Ort. Und während der heute 63-Jährige die papierenen Bäckertüten der Kunden mit Dauergebäck, Mischbroten und Brezeln füllte, wurde das defekte Rad ausgetauscht.
Hans Essenwanger ist wie in „99 Prozent der Fälle“der Erste am ersten Verkaufsort in der Günzburger Amselstraße. „Ob’s stürmt oder schneit, der Hans kommt“, sagt Schuster über einen der vielen Stammgäste, der „vier Brezga und ein Walnuss“bekommt. Katja Reichelt überlegt, wie lange sie in „Hurlers Brotshop“einkauft. „Das war, als mein Sohn in die fünfte Klasse ging. Jetzt ist er in der Neunten.“Ort und Zeit so Viertel nach Sieben seien auf dem Weg zum Dossenberger-Gymnasium ideal. Heute ist der Sohn nicht dabei, sondern die beiden Töchter und ein Briefkuvert, das sie Reichelt überreicht. Darin versteckt sich ein Gutschein für zwei Personen zum Spaghettieis-Essen am Silbersee. Außerdem steht auf der Karte „Danke für das Lächeln am Morgen“. Hans Steck hat sich an diesem Donnerstagmorgen eigens eine schwarze Krawatte umgebunden, um sich von Schuster in angemessener Form zu verabschieden.
An diesem Tag und in den voran- Tagen hat es viele kleine und große Aufmerksamkeiten gegeben: ein Geschenkkorb, ein Glas selbst gewonnener Honig, eine Flasche des Whiskys, „den ich so gerne mag“. Die Menschen drücken ihre Wertschätzung für einen Mann aus, der ihnen stets mit Freundlichkeit begegnet ist. Und der da war, wenn man ihn brauchte. „Mir haben manche Leute Dinge offenbart, die sie zu Hause nicht erzählt haben“, sagt er und denkt dabei etwa an Krebspatienten, die schon zig Chemotherapien hinter sich hatten und verzweifelt waren. In solchen Augenblicken trat der Brot-Tourplan in den Hintergrund.
Zum Singen hat der Heinz auch Zeit gehabt, wenn ihm danach war. Die ersten Zeilen eines selbstverfassten Liedes gehen so: „Ich bin der Butterbrezgen-Schmierer vom Hurlerbäck / Bei mir geh’n die Butterbrezgen wie die warme Wecka weg.“Als Schuster ein weiteres Gedicht vortragen will, stockt plötzlich seine Stimme. Tränen stehen ihm in den Augen. Der unwiderrufliche Abschied fällt sichtbar schwer. Eingegangenen mal wird er noch sehr früh aufstehen: Diesen Samstag hilft er dem Nachfolger, den er jetzt über sieben Wochen eingelernt hat, beim Beladen des Fahrzeugs. Das ist bei der Wochenendtour mit über 300 Kunden durchaus diffizil, denn da passt keine Brotscheibe mehr in den Brotshop, so vollgepackt ist der Wagen.
Künftig heißt es aber: Aufstehen nicht vor 6.30 Uhr. Eine Wohltat, findet Schuster. Und endlich kann er Filme im Fernsehen abends auch zu Ende schauen. Das blieb ihm bislang meistens verwehrt.