Mittelschwaebische Nachrichten

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (1)

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„Nein?“Er sah mich milde an. „Wenn Sie nächsten Monat anfangen, werden Sie zweiundvie­rzig Jahre lang über andere richten. Sie werden oben sitzen und die anderen unten, Sie werden ihnen zuhören, mit ihnen sprechen, ihnen auch einmal zulächeln, aber am Ende von oben herab entscheide­n, wer im Recht ist und wer im Unrecht und wer seine Freiheit verliert und wer sie behält. Wollen Sie das – zweiundvie­rzig Jahre lang oben sitzen, zweiundvie­rzig Jahre lang recht haben? Meinen Sie, das tut Ihnen gut?“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ja, mir hatte die Vorstellun­g gefallen, als Richter oben zu sitzen und gerecht mit den anderen zu verhandeln und gerecht über sie zu entscheide­n. Warum nicht zweiundvie­rzig Jahre lang?

Er schloss die Akte, die vor ihm lag.

„Natürlich nehmen wir Sie, wenn Sie wirklich wollen. Aber ich nehme Sie heute nicht. Kommen Sie nächste Woche wieder, mein Nachfolger

soll Sie einstellen. Oder kommen Sie in eineinhalb Jahren wieder, wenn Sie Ihr Guthaben genutzt haben. Oder in fünf Jahren, wenn Sie sich die Welt des Rechts als Rechtsanwa­lt oder Justitiar oder Kriminalko­mmissar von unten angeschaut haben.“

Er stand auf, und ich stand auch auf, verwirrt und sprachlos, sah ihm zu, wie er den Mantel aus dem Schrank holte und über den Arm legte, ging mit ihm aus dem Zimmer, den Gang entlang, die Treppe hinab und stand schließlic­h mit ihm vor dem Ministeriu­m.

„Spüren Sie den Sommer in der Luft? Nicht mehr lange, und wir haben heiße Tage und laue Abende und warme Gewitter.“Er lächelte. „Seien Sie Gott befohlen.“

Ich war gekränkt. Die wollten mich nicht? Dann wollte ich sie auch nicht. Ich wurde Rechtsanwa­lt nicht wegen des Rats des alten Herrn, sondern gegen ihn. Ich zog nach Frankfurt, trat bei Karchinger und Kunze ein, einer fünfköpfig­en Kanzlei, schrieb neben der Arbeit als Rechtsanwa­lt eine Doktorarbe­it und wurde nach drei Jahren Partner.

Ich war der jüngste Partner in einer Frankfurte­r Kanzlei und war stolz darauf. Karchinger und Kunze waren Schul- und Studienfre­unde, Kunze ohne Frau und Kinder, Karchinger mit einer rheinisch fröhlichen Frau und einem Sohn in meinem Alter, der eines Tages einen Platz in der Kanzlei finden sollte, sich durchs Studium kämpfte und von mir aufs Examen vorbereite­t wurde.

Wir kamen und kommen zum Glück gut miteinande­r aus. Heute ist er Senior, wie ich, und hat, was ihm an juristisch­er Kompetenz fehlt, durch soziales Geschick wettgemach­t. Er hat wichtige Mandate beschafft. Dass wir heute siebzehn junge Partner und achtunddre­ißig angestellt­e Mitarbeite­r haben, ist auch sein Verdienst.

In den ersten Jahren bekam ich die Fälle, an denen Karchinger und Kunze kein Interesse hatten. Ein Maler, der einen Auftrag erledigt hatte, dafür bezahlt worden war und jetzt mit dem Auftraggeb­er im Streit lag – das gab der erfahrene Büroleiter an mich, ohne Karchinger oder Kunze auch nur zu fragen.

Karl Schwind kam nicht allein. Mit ihm, Anfang dreißig, kam eine Frau, Anfang zwanzig, und während er mit strubbelig­em Haar und Latzhose in den Sommer 1968 passte, wirkte sie in ihrer Makellosig­keit an seiner Seite wie ein Fremdling. Sie bewegte sich gelassen, musterte mich kühl, und wenn der Maler sich ereiferte, legte sie ihm die Hand auf den Arm.

„Er will mich keine Aufnahmen machen lassen.“„Sie …“„Mein Portfolio ist zerstört, und von manchen Bildern muss ich neue Aufnahmen machen. Ich weiß, wer sie gekauft hat, rufe die Käufer an, und sie lassen mich vorbeikomm­en und die Bilder aufnehmen. Sie freuen sich über meinen Besuch. Er lehnt ab.“„Warum?“„Er sagt nicht, warum. Ich habe ihn angerufen, er hat aufgelegt, und als ich ihm geschriebe­n habe, hat er nicht geantworte­t.“Er hob und senkte, spreizte und ballte die Hände. Er hatte große Hände, wie alles an ihm groß war, Gestalt, Gesicht, Augen, Nase, Mund. „Ich hänge an meinen Bildern. Ich kann kaum ertragen, dass ich sie verkaufen muss.“

Ich erklärte ihm, dass das Gesetz dem Maler, der Vervielfäl­tigungen herstellen will, ein Recht auf Zugang zu seinem Bild gibt. „Wenn er ein berechtigt­es Interesse daran hat und keine berechtigt­en Interessen des Eigentümer­s entgegenst­ehen. Gibt es etwas, das der Eigentümer Ihnen entgegenha­lten könnte?“

Der Maler schob das Kinn vor, presste die Lippen aufeinande­r und schüttelte den Kopf. Ich sah die Frau fragend an, und sie zuckte lächelnd die Schultern. Er gab mir den Namen des Eigentümer­s des Bilds, Peter Gundlach, und die Adresse in bester Lage am Hang des Taunus.

„Wie ist Ihr Portfolio zerstört worden? Nicht dass es darauf ankäme, aber wenn ich erklären kann, warum …“

Wieder unterbrach er mich, und ich nahm es mir übel, wie ich mir damals immer übel nahm, wenn ich mich nicht so durchsetzt­e, wie ich es von mir erwartete. „Ich hatte einen Unfall, und das Portfolio ist mit dem Auto verbrannt.“„Ich hoffe …“„Mir ist nichts passiert. Aber Irene war eingeklemm­t und hat sich“, er legte seine Hand auf ihr Bein, „Verbrennun­gen geholt.“„Das tut…“Er winkte ab. „Nichts Ernstes und lange verheilt.“

Ich schrieb an Gundlach, der sofort antwortete. Er sei missversta­nden worden. Natürlich könne der Maler vorbeikomm­en und das Bild aufnehmen.

Ich gab die Antwort an Schwind weiter und hielt die Sache für erledigt. Aber eine Woche später war Schwind wieder da. Er war außer sich.

„Hat er Ihnen den Zugang verweigert?“

„Das Bild ist beschädigt. Am rechten Bein – es sieht aus, als wäre er mit dem Feuerzeug drübergega­ngen.“„Er?“„Ja, Gundlach. Es sei einfach passiert, sagt er. Aber es ist nicht einfach passiert, sondern mit Absicht. Ich sehe so was.“„Was wollen Sie jetzt?“„Was ich jetzt will?“Die Frau war wieder dabei und legte ihm wieder die Hand auf den Arm. Aber er wurde trotzdem laut. „Was ich jetzt will? Es ist mein Bild. Ich habe es verkaufen müssen, und es hängt bei ihm, aber es ist mein Bild. Ich will es wieder richten.“

„Haben Sie ihm angeboten, das Bild zu reparieren?“

„Er lässt mich nicht. Er habe kein Problem mit dem kleinen Schaden, er wolle mich nicht im Haus haben, und aus dem Haus komme ihm das Bild nicht.“

Ich fand die Geschichte ein bisschen grotesk, aber die beiden sahen mich ernsthaft an, und so erklärte ich ihnen ernsthaft, dass die Lage rechtlich nicht einfach sei. »2. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben …
Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben … Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes...

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