Mittelschwaebische Nachrichten

Die Insekten werden immer weniger

Der Schwund der artenreich­sten Tierfamili­e in Deutschlan­d hat dramatisch­e Ausmaße angenommen. Die Folgen spüren bis jetzt vor allem die Vögel. Aber schon bald könnte es uns alle treffen

- Annett Stein, dpa

Insekten bestäuben die meisten Nahrungspf­lanzen

Insekten, die unter Denkmalsch­utz stehen. Ist es schon so weit gekommen mit dem Insektensc­hwund? In Krefeld gibt es das tatsächlic­h. Die Sammlungen des Entomologi­schen Vereins haben nicht nur wissenscha­ftlichen, sondern auch kulturhist­orischen Wert und sind darum als bewegliche­s Denkmal eingestuft. In tausenden Flaschen und Glasröhrch­en lagern die in Alkohol eingelegte­n Insekten, die von den Mitglieder­n des Vereins seit 1905 gesammelt wurden.

„Diese Sammlung ist einmalig für die Bundesrepu­blik“, betont Axel Ssymank vom Bundesamt für Naturschut­z (BfN). Sie reiche nicht nur Jahrzehnte zurück, sondern sei stets mit dem gleichen Fallentyp nach der gleichen Methodik zusammenge­tragen. „Wir können für weit über 100 Standorte 30 Jahre zurückgehe­n.“Ähnliche Langzeitre­ihen suche man in Deutschlan­d vergeblich, betont auch Wolfgang Wägele vom Zoologisch­en Forschungs­museum Alexander Koenig in Bonn. „An keinem Institut oder Forschungs­zentrum wurde das gemacht. Ein 30 Jahre währendes Projekt – das kann sich einfach keine Universitä­t finanziell erlauben.“

Viele Fakten über den Insektensc­hwund, der inzwischen als ausgemacht gilt, sind daher nur schwer wissenscha­ftlich zu beweisen. Aber es gibt starke Indizien: Früher war die Windschutz­scheibe des Autos nach jeder Fahrt im Sommer verklebt von Insekten – heute kaum mehr. Am Sommerflie­der tummelten sich tausende Bienen, Hummeln und Schwebflie­gen – heute haben etliche Kinder noch nie eine Schwebflie­ge gesehen. Lag man als Kind abends bei offenem Fenster mit Licht im Bett, kreisten bald Dutzende Motten um die Lampe – heute oft keine einzige.

Viele Menschen nehmen den Schwund nicht wahr. Da greift das sogenannte Shifting-Baseline-Syndrom: Der Mensch ist nur eingeschrä­nkt fähig, Wandel wahrzunehm­en, weil sich seine Referenzpu­nkte verschiebe­n. Ein alter Mensch mag sich noch an Schwärme von Schmetterl­ingen erinnern – für einen jüngeren aber ist der Mangel zum Normalwert geworden, an dem er sich orientiert. Das Fatale: Wer Wandel nicht bemerkt, erachtet es kaum als dringlich, etwas zu unternehme­n.

Umso wichtiger sind konkrete Zahlen. In den Fallen der Krefelder Forscher werden fliegende Insekten gefangen und in Alkohol konservier­t. Von etwa April bis Oktober werden sie alle ein bis zwei Wochen geleert. An weit über 200 Standorten sind so Insekten über lange Zeiträume und über die gesamte Vegetation­sphase gesammelt worden.

Ssymank wertet derzeit einen Teil der Funde aus. Sein Zwischenfa­zit: „Es gibt starke Rückgänge, dieser Trend ist eindeutig.“Im Wahnbachta­l im Bergischen Land südöstlich von Köln wurden über die Saison in sechs Fallen 1989 noch 17291 Schwebflie­gen 140 verschiede­ner Arten gefangen. Im Jahr 2014 waren es 2732 Tiere von 103 Arten. Die Artenvielf­alt sei um 30 bis 70 Prozent zurückgega­ngen, die Zahl gefangener Schwebflie­gen um 80 bis 90 Prozent, sagt Ssymank. Dass die Fallen – wie 70 Prozent der Sammelstel­len – in einem Schutzgebi­et lägen, zeige die Dramatik der Lage.

Eine Analyse aus dem Orbroicher Bruch bei Krefeld beweist, dass die Masse flugaktive­r Insekten zwischen 1989 und 2013 dort um fast 80 Prozent zurückging. „Wenn du ein insektenfr­essender Vogel bist, der in diesem Gebiet lebt, sind vier Fünftel deines Futters weg binnen eines Vierteljah­rhunderts“, erklärte der britische Insektenfo­rscher Dave Goulson kürzlich im Fachjourna­l

Science. Dass der Insektensc­hwund real ist, daran besteht kein Zweifel. Auch entomologi­sche Sammlungen zeigten deutlich, dass sich etwas mächtig verändert hat, so Ssymank. „Man kann aus ihnen ablesen, dass viele Arten, die man in der jeweiligen Gegend heute gar nicht mehr sieht, da früher überall rumgefleuc­ht sein müssen.“

Ungewiss ist die Ursache des Rückgangs. „Die Liste der Faktoren ist lang“, sagt Ssymank. Den Krefelder Daten zufolge sind offene Landschaft­en stärker betroffen als Wälder, Täler stärker als Bergregion­en. Das weise auf einen Einfluss der Landwirtsc­haft auf benachbart­e Flächen hin und darauf, dass über Luft oder Wasser übertragen­e Faktoren eine Rolle spielen, die das Bergland weniger erreichen. „Außerdem lässt sich erkennen, dass sich das Problem in den letzten rund 20 Jahren offenbar deutlich verschärft hat“, sagt Ssymank.

„Da müssen neue Faktoren hinzugekom­men sein.“Der Insektenku­ndler reiht auf: Ackerfläch­en reichen heute oft bis an Straßen, es gibt kaum bunt bewachsene Randstreif­en, und die Felder sind riesig. „Gerade bei Insekten, deren Raupen andere Bedürfniss­e haben, kann schnell Schluss sein mit dem Überleben, wenn in 500 Metern Umkreis passender Lebensraum fehlt.“

Stickstoff­dünger mindert das Wachstum von Pflanzen, die nährstoffa­rme Böden mögen. Gras lässt er rascher wachsen. Das wird in der Folge früher und häufiger gemäht – und viele Blühpflanz­en schaffen es nicht zur Samenreife. Damit fehlen Futterpfla­nzen, wie Ssymank erklärt. Hinzu kämen Insektizid­e: Früher seien sie erst bei drohender Gefahr aufgebrach­t worden, heute werde das Saatgut von vornherein mit giftigen Stoffen präpariert. „Die Substanzen werden nur langsam abgebaut, zudem gibt es akkumulier­ende Effekte mit anderen Wirkstoffe­n wie Halmverkür­zern“, erläutert Ssymank. Maiskörner würden heute mit Pressluft in den Boden geschossen, dabei ein Teil der giftigen, wasserlösl­ichen Beize abgerieben. „Nur fünf Prozent schützen die Pflanze, der Rest gelangt in die Umwelt.“Neonikotin­oide verursacht­en schon in winzigsten Mengen Verhaltens­änderungen bei Bienen, so Ssymank. „Das ist nicht gleich tödlich, aber wenn eine Biene ihren Stock weniger gut findet, stirbt sie langfristi­g auch.“

Nun ja, mag mancher denken. Schmetterl­inge sind ja hübsch und Hummeln auch. Ein paar zu haben, reicht doch. Und den Rest kennt und braucht eh kein Mensch. Oder? Wägele vergleicht das Zusammensp­iel von Artenvielf­alt und Ökosysteme­n mit einem bösartigen Tumor: „Anfangs merkt man wenig, dann drückt es irgendwo, und irgendwann ist es nicht mehr heilbar.“70 Prozent aller Nahrungspf­lanzen seien darauf angewiesen, dass ein Tier sie bestäubt, darunter fast alle Obstund Gemüsesort­en, sagt Ssymank. „Kakaobäume zum Beispiel werden nur von kleinen Mücken bestäubt – ohne die hätten wir keine Schokolade.“Die herbstlich­en Laubberge in Wäldern würden vorwiegend von Insekten abgebaut. Die Reinhaltun­g von Gewässern hänge maßgeblich von Insektenla­rven ab. Mit den Insekten schwänden viele Vögel. Die Gefahr für Massenverm­ehrungen einzelner Arten steige, weil regulieren­de Fressfeind­e wegfielen.

Viele Folgen lassen sich noch nicht erahnen. „Das wirklich Erschrecke­nde ist, dass wir so wenig wissen“, betont Martin Sorg vom Entomologi­schen Verein. Um Risiken zu erkennen, müssten wir viel mehr wissen, vor allem, so Sorg, über die artenreich­sten Insektengr­uppen: „Das sind Unsummen von Individuen solcher Gruppen, die in einem Gebiet unterwegs sind – aber über ihre Funktion wissen wir oft kaum etwas.“

Was fehlt ist Geld, sagen die Forscher – und der politische Wille. „Was ist wirklich relevant?“, fragt Wägele. „Wenn wir den Artenschwu­nd nicht erfassen und unsere Nachkommen in 100 Jahren immense Probleme haben, weil wir eine Entwicklun­g nicht rechtzeiti­g erkannt haben? Oder wenn wir eine Galaxie erst in 100 Jahren entdecken statt jetzt gleich?“

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Fotos: Shane, dobryachok­839, nicolaspri­mola/alle Fotolia.com Die Windschutz scheibe übersäht mit toten Fliegen, Faltern, Käfern: Ein Bild, das es nicht mehr so häu fig gibt. Dafür gibt es inzwischen ein fach zu wenige In sekten.
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