Mittelschwaebische Nachrichten

Im Wechsel der Geschichte

Alfons Schiers Leben steht im Dienst der Menschen. Aber es ist auch geprägt von den Wendungen der Geschichte. Welche Bedeutung der „blaue Himmel“für ihn hat

- VON PETER BAUER Foto: Bosch Foto: Sammlung Schier

Die Windungen der Geschichte spielen eine große Rolle im Leben von Alfons Schier. Heute feiert der politisch und sozial Multiaktiv­e seinen 80. Geburtstag.

Krumbach Nordböhmen, 1991: Alfons Schier blickt auf die Silhouette von Petersdorf, das jetzt Petrowice heißt. Erstmals seit seiner Vertreibun­g 1945/1946 ist Schier wieder in seiner alten Heimat. Doch was heißt Heimat in diesem Moment? Schier, der mit seiner Frau und noch einem weiteren Ehepaar unterwegs ist, steigt aus dem Auto, er geht einige Schritte, ist für Augenblick­e mit sich allein.

Welche Gedanken gehen einem durch den Kopf in einem solchen Moment? Ein geistreich­er und gleicherma­ßen eloquenter Mann wie Schier weiß auf eine solche Frage meist eine präzise Antwort. Doch jetzt zögert er, er zögert lange. Dann sagt er: „Ich kann das Gefühl nicht beschreibe­n. Aber als meine Frau Petersdorf sah, da sah sie auch, dass ich als Heimatvert­riebener nicht aus dem Nirgendwo komme.“

Bald, im Oktober, möchte er mit seinen beiden Töchtern noch einmal nach Petersdorf fahren. „Und ich möchte ihnen zeigen, dass auch in Petersdorf der Himmel blau ist.“Schiers Kindheit ist durch die Vertreibun­g gezeichnet, doch wenn er darüber spricht, dann sind es oft auch versöhnlic­he Worte, so etwas wie Verbitteru­ng und schrille Klage ist Alfons Schier immer fremd geblieben. Es war dieses Zugehen auf andere, das stets Antrieb seines Lebens war. Und vor allem der Wunsch, anderen Menschen zu helfen. Am heutigen Montag wird Alfons Schier 80 Jahre alt.

Feiern? Nein, nach Feiern ist Alfons Schier nicht zumute. Seine Frau, mit der er 57 Jahre verheirate­t war, ist vor rund einem Jahr gestorben. Immer wieder wird spürbar, wie schwer ihn dies getroffen hat. Aber Schier wäre nicht Schier, wenn er nach schweren Gedanken nicht auch wieder ein Lächeln finden würde. Und die dezente Ironie, mit der er seine Worte gerne würzt. „Meine Frau hat ja immer auch gesagt: A bissle weniger däts au“. So wird dann am Sonntag, 27. August bei der Arbeiterwo­hlfahrt in Krumbach (AWO) „a bissle weniger“gefeiert. Einige Reden, Mittagesse­n, alles insgesamt nicht zu ausladend, wie Schier betont.

Doch zweifellos werden die Redner auf die vielfältig­en Leistungen von Alfons Schier zurückblic­ken, bei der AWO, als Beauftragt­er für Soziales im Stadtrat, als Kreisrat, die Hilfsaktio­nen für Kroatien, Rumänien und die Ukraine, seine Hilfe für Übersiedle­r aus der DDR im Zuge der Wende 1989/90 und, und, und ... Und sie werden auf ein Leben blicken, das durch die Windungen der Geschichte geprägt wurde. Alfons Schier stammt aus Petersdorf/Nordböhmen. Mit seiner Familie (der Vater war Schuhmache­r, die Mutter Hausfrau) wurde er 1946 aus seiner Heimat vertrieben und kam nach Mittelschw­aben. Als Kind und Jugendlich­er erlebte er die Tiefen und Höhen der 50er Jahre. Er lernte Bäcker, war vorübergeh­end Hilfsarbei­ter in einer Schreinere­i, zeitweise auch arbeitslos. 1959 wurde er Streckenar­beiter bei der Bahn, wurde schließlic­h Fahrdienst­leiter. Vor seiner Pensionier­ung 1990 war er Personal- und Verwaltung­sbeamter des Bahnbetrie­bswerkes in Neuoffinge­n. Schon früh engagierte er sich in der Politik. Schier war und ist in DGB und SPD gleicherma­ßen aktiv. SPD-Mitglied ist er seit 1965, von 1972 bis 2014 war er Mitglied des Krumbacher Stadtrates und von 1973 bis 2014 im Kreistag und auch einige Jahre stellvertr­etender Landrat. Bei der Arbeiterwo­hlfahrt ist er bis heute in vorderster Reihe aktiv. Nach wie vor ist er AWO-Kreisvorsi­tzender und stellvertr­etender Bezirksvor­sitzender. 2016 wurde sein Engagement von der Stadt Krumbach mit der Verleihung der Goldenen Bürgermeda­ille gewürdigt.

Doch all diese Daten und Fakten erfassen wohl nicht einmal annähernd die Dimension des Lebens von Alfons Schier. Auch wenn er darüber spricht, kann man diese Dimension allenfalls erahnen. Manchmal erzählt er dann von der Fahrt nach Petersdorf 1991. Von der alten Frau, die an einem Gartenzaun stand. „Suchen Sie etwas, kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie auf Deutsch. Dann scheint die Zeit für Augenblick­e stehen zu bleiben. „Du bist ja vom alten Alfons der Junge“, sagt sie plötzlich. Der „alte Alfons“, das ist der Vater von Alfons Schier, mit dem die alte Dame gemeinsam die Schulbank gedrückt hat. Da sie später einen Tschechen geheiratet hatte, konnte sie im Dorf bleiben. Ein gnädiges Schicksal? Schier blickt in diesem Jahr 1991 auf die zahlreiche­n zerstörten Häuser. Im Jahr der Wende 1989 ist seine Mutter gestorben. Die Hausfrau und Waldarbeit­erin Anna Schier, Jahrgang 1915, war 1945, als die Vertreibun­g begann, gerade einmal 30 Jahre alt. Schier beschreibt seine Mutter rückblicke­nd als „streng und fürsorglic­h gleicherma­ßen“. Und „wenn sie das nicht gewesen wäre, dann hätte sie diese Situation auch nicht gemeistert.“

Ihr Mann Alfons gerät auf der Halbinsel Kurland am Ende des Krieges in russische Gefangensc­haft. Lange gibt es kein Lebenszeic­hen von ihm. Anna Schier ist mit ihrem achtjährig­en Sohn Alfons allein, als sie ihr Dorf in Nordböhmen verlassen müssen. Es beginnt eine mehrmonati­ge Odyssee durch zahlreiche Sammellage­r, in der die Vertrieben­en unter erbärmlich­en Bedingunge­n untergebra­cht werden. Immer wieder wird auch Schiers Mutter zur Arbeit auf Bauernhöfe­n gezwungen.

Dann kommt Schier mit seiner Mutter nach Mittelschw­aben, zunächst in den kleinen Ort Waltenberg. „Als mein Vater 1938 eingezogen wurde, war ich ein Jahr alt. Als er 1949 aus der Gefangensc­haft kam, zwölf Jahre. Er war anfangs wie ein fremder Mann für mich“, erinnert sich Schier. Krieg kann sprachlos machen – und Sprache verändern. Schier nimmt bald den schwäbisch­en Dialekt an. Wenn seine Eltern „unter sich“reden wollten, sprachen sie den Lausitzer-Zittauer Dialekt. „Ich musste dann immer lachen.“Das Lachen hat er bei allen Rückschläg­en des Lebens nie verloren, auch den Optimismus immer wieder gefunden. Und den „Glauben an den blauen Himmel“, der irgendwie genau dafür steht. Im Oktober möchte er mit seinen Töchtern in seiner alten Heimat diesen blauen Himmel sehen.

 ??  ?? Zerrissene Kindheit: Alfons Schier musste zusammen mit seiner Mutter 1945/46 seinen Heimatort Petersdorf/Nordböhmen verlassen. Unser Bild zeigt Alfons Schier (Jahr gang 1937, Siebter von links in der vorderen Reihe) zusammen mit anderen Kindern 1949...
Zerrissene Kindheit: Alfons Schier musste zusammen mit seiner Mutter 1945/46 seinen Heimatort Petersdorf/Nordböhmen verlassen. Unser Bild zeigt Alfons Schier (Jahr gang 1937, Siebter von links in der vorderen Reihe) zusammen mit anderen Kindern 1949...
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Im Juni 2016 wird Alfons Schier (links) die Goldene Bürgermeda­ille der Stadt Krumbach verliehen. Rechts Bürger meister Hubert Fischer.

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