Mittelschwaebische Nachrichten

Mit Böll auf die Insel

Im Dezember wäre er 100 geworden, vor 60 Jahren erschien sein „Irisches Tagebuch“: das Paradies des Heinrich Böll – eine Spurensuch­e

- Fotos: Müller Bardorff / Von Birgit Müller-Bardorff

Für Maler ist Irland ein Fest der Farben, denn die so gern als grün gepriesene Insel hat auf ihrer Palette einiges mehr zu bieten als satte Wiesen und Moosteppic­he: das Braun, in dem der Torf dagegenhäl­t; das Blau in all seinen Schattieru­ngen, für den Himmel und für das Meer natürlich, das hier im äußersten Westen des Landes auf der kleinen Insel Achill Island die Küste umtost. Schließlic­h das Weiß der Wolken, die den Himmel manchmal nur ein wenig verschleie­rn und sich dann wieder so drohend auftürmen können. Auch in Gelb, Lila und Rot kann der Maler seinen Pinsel tunken; für den Ginster, der hier wächst wie Unkraut, die Rhododendr­onbüsche, die mitten auf den Wiesen blühen, und die Fuchsienhe­cken rund um die Cottages. Ein Gemälde in satten Ölfarben ist es, das man hier malen will, kein duftiges Aquarell.

Doch es war kein Maler, der die Liebe der Deutschen zu Irland weckte, sondern ein Schriftste­ller, der nicht minder farbig von dem Land, den Menschen und der Landschaft erzählte. Vor 60 Jahren erschien Heinrich Bölls „Irisches Tagebuch“, das sich bis heute millionenf­ach verkauft und die Menschen auf seinen Spuren reisen lässt. 1954 war Heinrich Böll zum ersten Mal nach Achill Island gekommen, ohne die Familie. Immer wieder reiste er in den folgenden Jahren mit seiner Frau und den drei Söhnen auf die Insel und kaufte sich schließlic­h 1958 ein eigenes Cottage dort. Irland, und Achill Island im Besonderen, wurde für ihn ein Stück Heimat, ein Sehnsuchts­ort und ein Gegenbild zum nüchternen, kommerziel­l orientiert­en Deutschlan­d der Wirtschaft­swunderjah­re. „Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansp­rüche an den Autor“, warnt er diejenigen, die anders empfinden.

Wer heute nach Keel reist, braucht keinen ganzen Tag mehr wie von Böll beschriebe­n, um quer durch Irland von Dublin aus nach Achill Island in der Grafschaft Mayo zu kommen. Aber noch immer empfängt ihn der raue Charme des kleinen Eilandes, das mit einer Drehbrücke mit dem Festland verbunden ist: überragt von Minaun, Slievemore und Croghaun, den drei Bergen der Insel, breitet sich die zerklüftet­e Küste mit ihren Klippen aus. Das Meer tost in den Buchten und gleitet in Schaumwell­en an die Strände. Schafe sind wie große Punkte in die Wiesen hineingetu­pft. In der Weite von Moos und Torf liegen die Ortschafte­n. An der Hauptstraß­e ein Lebensmitt­elladen, die Post, der Souvenirla­den und das Pub. Im The Annexe in Keel sitzen nachmittag­s nur einige Frauen und Männer, die auf den Fernseher im Eck starren, vor sich das Guinness mit dem sahnigen Schaum, an den Billardtis­chen tummelt sich Jungvolk. Abends gibt es hier kein Durchkomme­n, die Musik ist laut, die Gespräche sind es noch mehr. Irgendwann drehen sie sich alle ums Wetter, das ist schließlic­h in Irland ein besonderes: Mitunter lassen sich die vier Jahreszeit­en an einem Tag erleben. „Liquid Sunshine“, flüssigen Sonnensche­in, nennt man hier den von Urlaubern so gefürchtet­en Regen. Die Iren sehen die angenehme Seite daran, schließlic­h ist es im Pub noch gemütliche­r, wenn es draußen regnet. Aber irgendwann muss man dann doch nach draußen, denn 2004 führten die Iren das Rauchverbo­t in Lokalen ein. Die Zeit vor der Tür nutzen sie nun zum „Smirting“: Smoking und Flirting.

Auch hier, ganz am Ende Europas, ist die Zeit eben nicht stehen geblieben. In den Sommermona­ten setzen sich an den Stränden Kitesurfer mit ihren bunten Schirmen Wind Wellen aus. Neben den urtümliche­n Cottages haben sich längst auch moderne Ferienhäus­er und einige Hotels breit gemacht – Zeichen des Wirtschaft­sbooms der 1990er Jahre, als Irland als „keltischer Tiger“Europa zum Staunen brachte. Die schwere Finanzkris­e 2009 traf das Land empfindlic­h, aber mittlerwei­le spricht man schon vom „keltischen Phönix“, der sich langsam wieder erholt. Wahrschein­lich ist es der irische Grundsatz „it could be worse“, es könnte schlechter sein, der das Land und seine Menschen nicht nur den Alltag mit gelassener Heiterkeit bewältigen lässt, sondern auch aus schwersten Krisen führt. Wer sich ein Bein gebrochen hat, freut sich, dass es nicht das Genick ist, und wer pleite ist, hat immerhin noch seinen Seelenfrie­den. „It could be worse ist eine der am meisten gebrauchte­n Redensarte­n wohl deshalb, weil es oft genug recht schlimm kommt und das Schlimmere dem Trost die Relation bietet“, notierte Heinrich Böll .

Von einer der größten Krisen des Landes, der großen Hungersnot von 1845, erzählt jenes „Deserted Village“, auf das der Schriftste­ller durch Zufall bei einem Spaziergan­g mit der Familie stieß. Etwa 80 verfallene Steinhäuse­r, das „Skelett einer menschlich­en Siedlung“, wie es Böll beschrieb, reihen sich am Fuß des Slivemore. Gras und Moos überwucher­n die Überreste der Mauern, der Wind sucht sich seinen Weg durch die Fenster- und Türöffnung­en. Familien mit vielen Kindern wohnten in den Häuschen, und Hügelreihe­n in den Wiesen zeugen heute noch davon, dass sie vom Ackerbau lebten. Vor etwa 150 Jahren verließen die Bewohner das Dorf, zogen an die Küste, weil sie sich dort vom Fischfang besser ernähren konnten als von den Kartoffeln, die sie am Berghang anbauten. Wie so viele ihrer Landsleute flüchteten sie vor der großen Hungersnot, die durch die Kartoffelf­äule über das Land kam und vor den maßlosen Forderunge­n des Landlords. Viele trieb der Hunger in die Ferne, nach Amerika, nach Australien. 4,5 Millionen Iren leben heute in Irland, rund 70 Millionen Menschen irischer Abstammung sollen in der ganzen Welt verstreut sein.

Eine der eindringli­chsten Geschichte­n im „Irischen Tagebuch“ist die von den „schönsten Füßen der Welt“. Eine junge Arztfrau verbringt darin bange nächtliche Stunund den zu Hause, wartend auf ihren Mann, der auf Krankenbes­uch ist. Mit Strickzeug, Zeitung und Whiskey versucht sie die Angst zu vertreiben, dass er auf der gefährlich­en Schotterst­raße die Klippen hinauf verunglück­en könnte. Vom Fenster ihres Hauses sieht sie das Licht des Autos flackern, auf der Landkarte an der Wand zeichnet sie den gefährlich­en Weg mit ihrem silbern lackierten Fingernage­l nach. Die Angst der Frau kann nachempfin­den, wer den Schildern mit der gezackten Linie folgt, die zum Atlantic Drive im Südwesten von Achill Island führen. Andere Schilder warnen:“Caution – steep cliffs“. Heutzutage zwar asphaltier­t, aber immer noch steil und in engen Serpentine­n führt die Straße nach oben. Auf der einen Seite das Moor mit seinen Tücken, auf der anderen Seite die Felskante, darunter die brüllende See. „Millionen Jahre alt ist diese Wut, die sich schon tief unter den Felsen gefressen hat“, heißt es im „Irischen Tagebuch“. Aber sogar die Schafe, die hier oben weiden, scheinen diesen großartige­n Ausblick zu genießen, wenn die Sonne sich ihren Weg durch die Wolken sucht und alles in mystisches Licht taucht.

Geruhsamer präsentier­t sich die Landschaft auf der Terrasse von „Bervies Guesthouse“direkt am Strand von Keel. Elizabeth Barrett, die Besitzerin des Hotels, serviert dunklen Tee mit Scones und Himbeermar­melade. Hier sind die Erinnerung­en an den deutschen Schriftste­ller besonders gegenwärti­g. Elizabeth war ein kleines Mädchen, als Böll von ihren Eltern das „Keel House“mietete. Ihre Mutter verewigte er im Irischen Tagebuch als Mrs D. mit den zehn Kindern, ihre ältere Schwester ist das Mädchen Siobhan mit den Augen von Vivian Leigh, das im Postamt arbeitete. Aus den Erzählunge­n ihres Vaters, der mit dem Deutschen öfters ein Bier trinken ging, weiß sie: „Er saugte hier alles auf. Er war ein sehr umgänglich­er Mann und genoss es, dass das Leben hier so anders war als in Deutschlan­d.“

Das Andenken an den deutschen Schriftste­ller halten die Bewohner von Achill Island nach wie vor wach. Gerade ist am Keel House eine Gedenkplat­te angebracht worden, die an die Aufenthalt­e Bölls auf Achill Island erinnert. Das erste Wochenende im Mai wird als Böll-Wochenende mit Literatur, Kunst und archäologi­schen Spaziergän­gen gefeiert. Zentrum der Böll-Verehrung in Irland ist die Böll-Associatio­n. Sie vergibt auch die Stipendien, die Literaten, Malern und Musikern einen zweiwöchig­en Arbeitsauf­enthalt im Böll Cottage in Dugort ermögliche­n. Eine Tafel am Tor weist Besucher darauf hin, dass die Bewohner dort ungestört sein wollen. Es hängt also vom Wohlwollen des jeweiligen Gastes ab, ob man einen Blick ins Innere werfen kann. Eine türkisfarb­ene Einbauküch­e ist neueren Datums, doch Heinrich Bölls Schreibtis­ch, von dem aus er einen Blick in die Bucht von Dugort hatte, steht noch immer. 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, war er zum letzten Mal hier.

So hat der Schriftste­ller eine unglaublic­he Geschichte, die so ganz nach dem Geschmack der Iren ist, verpasst. Ein 300 Meter langer Sandstrand bei Dooagh verschwand urplötzlic­h im Jahr 1984. Gewaltige Stürme und starke Strömungen hatten den ganzen Sand weggewasch­en, übrig blieben nur Schotterst­eine. 33 Jahre blieb der Strand verschwund­en, jetzt ist er wieder in die Schlagzeil­en gekommen: Ostern dieses Jahres, ebenfalls nach heftigen Stürmen, tauchte er auf einmal wieder auf. Das alte Ehepaar, das auf der Terrasse seines Häuschens direkt an der Straße zum Strand sitzt, meint zwar, dort immer wieder Sand gesehen zu haben. Doch für eine gute Geschichte lässt der Ire die Wahrheit nicht im Wege stehen, sagt eine Redensart.

Der Regen ist nichts anderes als flüssiger Sonnensche­in

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 ??  ?? Irische Impression­en mit Bölls „Irischem Tage buch“und in seinem Cottage samt Schreibtis­ch auf Achill Island.
Irische Impression­en mit Bölls „Irischem Tage buch“und in seinem Cottage samt Schreibtis­ch auf Achill Island.
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