Mittelschwaebische Nachrichten

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (21)

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Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Eigentlich wäre richtig, wenn jeder arbeiten müsste, aber den Zeitpunkt, zu dem er mit dem Arbeiten aufhört, selbst bestimmen könnte. Ab diesem Zeitpunkt sollte ihm die Gesellscha­ft drei Jahre lang zahlen, was er zu einem ihm angemessen­en, angenehmen Leben braucht. Dann muss er sich aus dem Leben verabschie­den, kann aber selbst bestimmen, wie.

Ich weiß, es wird sich nicht durchsetze­n lassen. Aber es würde nicht nur die Probleme unserer alternden Gesellscha­ft lösen. Es würde auch jedem die Kontrolle über sein Leben geben. Wer mit sechsundzw­anzig nicht mehr arbeiten und die letzten Jahre seiner Jugend zu den letzten Jahren seines Lebens machen und in vollen Zügen genießen will, darf mit sechsundzw­anzig zu arbeiten aufhören, und wer von der Arbeit nicht lassen will, darf arbeiten, solange er will, und riskiert lediglich, dass er eines Tages über der Arbeit zu alt geworden ist, um seine drei freien Jahre noch genießen

zu können. Ich jedenfalls erhebe nicht auf mehr Anspruch als auf drei Jahre nach dem Ende meines Arbeitsleb­ens. Ich begreife die Rentner und Pensionäre nicht, die nach China reisen und zwei Tage in Shanghai, drei in Peking, einen an der Großen Mauer und fünf Tage am Strand von Qingdao verbringen. Sie sehen auf Fernreisen nicht mehr als beim Fernsehen. Was sie zu Hause anderen Rentnern und Pensionäre­n von der Ferne erzählen, wissen die schon. Was sie ihren Kindern erzählen, wollen die nicht wissen. Wollen sie sich an ihren Erinnerung­en freuen, weil sie nicht mehr reisen können, haben sie sie vergessen. Alt werden, um endlich die Welt zu sehen – wie töricht. Auch alt werden, um die Weltgeschi­chte weitergehe­n oder die Enkel heranwachs­en zu sehen, ist töricht. Warum sich an die Lektüre eines Buchs machen, wenn man weiß, dass man es nicht zu Ende lesen kann, sondern in der Mitte zuschlagen und weglegen muss?

Drei Jahre voller solcher Torheiten sind ausreichen­d. Drei Jahre! Ich dachte nach, aber mir fiel nicht ein, mit welchen Torheiten ich drei Jahre füllen sollte. Mir fiel aber auch nicht ein, warum ich mich noch mal um Mergers und Acquisitio­ns kümmern sollte. Dieser doppelte Befund beunruhigt­e mich. Bis ich einschlief, sonnenwarm und sonnenmüde.

Der Hubschraub­er weckte mich auf. Er kam nicht über den Berg, sondern entlang der Küste, bog in die Bucht und kreiste über Strand und Mole. Dann bog er aus der Bucht, wie er gekommen war. Er flog tief, war laut, und die knatternde­n und zischenden Rotorblätt­er wühlten das Meer auf.

Er trug keine Aufschrift und war nicht als Polizei- oder Rettungsod­er Fernsehhub­schrauber kenntlich. Das glänzende Metall, die spiegelnde­n Fenster, der laute, tiefe Anflug über das aufgewühlt­e Meer – es war wie ein Angriff. Ich stand auf, erschrocke­n und mit wirren Gedanken.

Der Geheimdien­st? In was war Irene verstrickt? Sie war illegal im Land, aber darum schickte der Geheimdien­st keinen Hubschraub­er, aber vielleicht war es nicht der Geheimdien­st, sondern das organisier­te Verbrechen, so oder so musste sie etwas Schlimmes getan haben. Oder saßen im Hubschraub­er Investoren und planten die Entwicklun­g der Bucht zum Ferienort? Nein, die Bucht war Naturschut­zgebiet, im Hubschraub­er saßen keine Investoren, sondern Agenten oder Mafiosi, in Anzug oder Lederjacke, mit Laptop oder Pistole oder beidem. Sollte ich Irene warnen? Würde ich den Weg finden?

Ich spürte, dass ich nicht mehr alleine unter dem Vordach stand. Ich sah mich um; ein paar Schritte weiter stand der Junge, der zwei Nächte davor auf dem Balkon gehockt hatte, den Blick seiner tiefen, dunklen Augen auf mich gerichtet. Kari. Die Züge seines Gesichts waren mir so fremd, dass ich sein Alter nicht schätzen konnte. Er musste älter als achtzehn sein, alt genug, Irene zu warnen. „Kannst du Irene finden?“„Was wollen die?“„Ich weiß nicht. Aber sie sollte wissen, dass der Hubschraub­er hier war.“

Er nickte, drehte sich um und lief los, zügig, gleichmäßi­g, mühelos. Ich sah und hörte ihm nach, bis er am Berg zwischen den Bäumen verschwand. Einen Augenblick war es still. Ich hörte wieder die Wellen klirrend durch die Kiesel zurück ins Meer fließen. Ich blinzelte in die Sonne.

Dann kam der Hubschraub­er zurück. Zuerst hörte ich ihn, dann sah ich ihn. Er flog auf das alte Haus zu, unter dessen Vordach ich stand, hing in der Luft, sank nieder und setzte sich auf die Mole. Wieder wühlte er das Meer auf. Dann erstarb der Motor, und der Hubschraub­er ließ die Rotorflüge­l hängen. Der Pilot stieg aus und half dem Passagier aussteigen. Ein alter, hagerer Mann mit Stock, aber vollem weißem Haar, aufrechter Haltung und sicheren Bewegungen. Gundlach.

„Hat Schwind Sie geschickt? Vertreten Sie ihn wieder? Er will das Bild haben, nicht wahr?“Er sah mich, kam auf mich zu, auf den Stock gestützt und zugleich voller Energie, und redete los. Dann stand er vor mir.

Ich ärgerte mich über ihn. Ich hatte ihn nicht gemocht, als er seinerzeit bei meinem Besuch in seinem Haus meinen Arm genommen hatte, ich hatte ihn bei unseren gesellscha­ftlichen Begegnunge­n immer herablasse­nd gefunden und fand ihn jetzt grob. „Haben Sie ihm das Bild nicht gegeben? Wofür er Ihnen Irene gebracht hat? Die Sie nicht halten konnten?“

Er schnaubte verächtlic­h. „Das waren Kindereien. Das Bild gehört mir. Es war weg, jetzt ist es wieder da. Hat Ihr Mandant …“

„Schwind ist nicht mein Mandant.“ „Und was machen Sie hier?“„Geht Sie das was an?“Er winkte ab. „Sie waren immer schon empfindlic­h. Eigentlich erstaunlic­h, dass Sie als Anwalt reüssiert haben. Wann kommt Irene zurück?“Ich zuckte die Schultern.

„Dann schaue ich mir das hier mal an. Sie hat sich einen schönen Fleck ausgesucht, niemand kommt, niemand stört sie, und dabei gehört es ihr gar nicht. Ich muss für so was hart arbeiten.“

Er ging, drehte sich aber gleich wieder um und musterte mich. „Sie hier?…“Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte Sie immer im Verdacht, aber mochte nicht glauben, dass Sie sich als Anwalt trauen würden.“Dann lachte er. „Jedenfalls hatten Sie eine gute Nase, eine bessere als ich. Wenn ich geahnt hätte, dass das Bild eines Tages mehr als zwanzig Millionen wert sein würde…“

Ich sah ihm nach, wie er in das untere Haus trat, wieder herauskam, die Treppe zum oberen Haus hochstieg und darin verschwand. Er setzte seinen Stock hart auf die Treppenstu­fen und die Dielen des Hauses; als ich ihn nicht mehr sah, hörte ich noch eine Weile das Klack, Klack seines Stocks. Dann war es still. Der Pilot hatte sich auf den Rand der Mole gesetzt, ließ die Beine baumeln und rauchte eine Zigarette.

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