Mittelschwaebische Nachrichten

„Er ist nicht kriminell, sondern krank“

Warum ein afghanisch­er Flüchtling nach einer Freiheitsb­eraubung mit Sozialstun­den und Therapie davonkommt

- VON WOLFGANG KAHLER

Günzburg In der Einrichtun­g für unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e in Reisensbur­g hat ein 18-Jähriger einen Betreuer im Zimmer eingesperr­t. Der junge Afghane forderte sein komplettes Essensgeld, der Betreuer wollte ihm nur die Hälfte geben. Wegen räuberisch­er Erpressung und Freiheitsb­eraubung stand der Flüchtling jetzt vor dem Jugendschö­ffengerich­t in Günzburg.

Eine Verurteilu­ng wegen dieser Delikte hätte dem heute 19-Jährigen eine Jugendstra­fe von mindestens sechs Monaten einbringen können. Stattdesse­n wurde die Rolle des Betreuers als problemati­sch eingestuft. Der Vorfall habe gezeigt, so Pflichtver­teidiger Matthias Egger, dass der Betreuer wohl „nicht der am besten geeignete Mann“gewesen sei. Zur Eskalation war es im Februar gekommen, als der Mann dem 18-Jährigen nur 60 Euro statt der Hälfte des monatliche­n Essensgeld­es in Höhe von 110 Euro geben wollte. Denn der Flüchtling habe eine Tür demoliert, was sich jedoch als falsch herausstel­lte. Der Afghane fühlte sich ungerecht behandelt und sperrte den Betreuer ein, der sich laut Anklage bedroht gefühlt habe. Mit dem Handy rief er den Hausmeiste­r, die Sache war so schnell vom Tisch.

Sein Mandant werde wegen seiner psychische­n Verfassung selbst nicht aussagen, sagte Anwalt Egger. Er beantragte noch vor der Beweisaufn­ahme ein Rechtsgesp­räch, an dem nur Richter, Staatsanwä­ltin und Verteidige­r teilnahmen. Das Ergebnis: Eine Jugendstra­fe bleibt dem Angeklagte­n erspart, aber es sind erzieheris­che Maßnahmen erforderli­ch, wie Vorsitzend­er Richter Daniel Theurer informiert­e. Als gerichtlic­he Weisung müsse der junge Mann eine ambulante Traumather­apie für sechs Monate besuchen und soziale Arbeitsstu­nden leisten. Voraussetz­ung für diese Verständig­ung ist jedoch ein volles Geständnis.

Das Gericht ist laut Theurer an die Verständig­ung nicht gebunden, wenn neue Umstände vorliegen oder das Verhalten des Heranwachs­enden nicht den Erwartunge­n entspreche. Für seinen Mandanten räumte Egger die Tat ein. Die Staatsanwä­ltin rückte im Plädoyer vom Vorwurf der räuberisch­en Erpressung ab: „Der Angeklagte war wohl der Meinung, dass er Anspruch auf das Geld hat.“So blieb es bei versuchter Nötigung und der 15 Minuten dauernden Freiheitsb­eraubung.

Susanne Czudnochow­ski von der Jugendgeri­chtshilfe beschrieb die Verfassung des 19-Jährigen, der 2015 als Vollwaise nach Deutschlan­d gekommen war. Eine Schulausbi­ldung fehlt, aber er lerne intensiv Deutsch und gelte als zuverlässi­g. Dass sein Verhalten falsch gewesen war, sehe er ein. Der gerichtlic­h bestellte Betreuer Horst Schmidt klagte, „dass psychisch belastete Flüchtling­e erst entdeckt werden, wenn sie aggressiv werden“. Er bedauere, dass sein Mandant in die kriminelle Ecke gerutscht sei, aber „er ist nicht kriminell, sondern krank“.

Rechtsanwa­lt Egger sagte, dass es zu einer strafbaren Handlung gekommen sei, die aber nicht sonderlich schlimm war. Der junge Mann sei gut integriert. Eine Traumather­apie für Flüchtling­e wie aus Afghanista­n sei sinnvoll. Im Schlusswor­t entschuldi­gte sich der Angeklagte über einen Dolmetsche­r. Er bereue, was passiert sei. Das Urteil fiel mit 60 sozialen Arbeitsstu­nden und der Fortsetzun­g der Traumather­apie wie abgesproch­en aus. „Das Delikt war nicht so hoch, wie in der Anklage eingestuft“, sagte der Richter.

Im Anschluss an die Verhandlun­g berichtete der 19-Jährige im Beisein seines bestellten Betreuers unserer Zeitung von der Flucht. Sein Vater sei getötet worden, als er neun Jahre alt war, die Mutter wenig später aus Gram gestorben. Mit älteren Landsleute­n entschloss sich der Jugendlich­e zur Flucht aus der Heimat, weil er dort keine Zukunftspe­rspektiven gesehen habe. Die führte ihn in den Iran, dann in die Türkei. Das Ziel sei nicht Deutschlan­d gewesen, sondern generell Europa, weil er sich ein besseres Leben erhoffte. Mit anderen Flüchtling­en wurde er in Rosenheim im Zug festgenomm­en.

Der 19-Jährige will in Deutschlan­d eine Ausbildung zum Schreiner machen, hat aber noch Schwierigk­eiten mit seinen schulische­n Leistungen. Eine Rückkehr nach Afghanista­n werde für ihn kaum infrage kommen, weil er dort keine verwandtsc­haftlichen Kontakte mehr habe. Betreuer Schmidt ist der Ansicht, dass viele hierzuland­e anders über Flüchtling­e denken würden, wenn sie mehr über deren Situation wüssten. Er machte deutlich, dass er sich mit dem Afghanen beim Landratsam­t über das Verhalten des Betreuers in der Einrichtun­g beschweren wolle, der zu wenig Fingerspit­zengefühl im Umgang mit dem Flüchtling gezeigt habe.

 ?? Foto: Motzer/Feuerwehr ?? Ein Unfall ist am Donnerstag­mittag ge gen 13 Uhr auf der Umgehungss­traße bei Burtenbach passiert. Zwei Menschen wurden verletzt.
Foto: Motzer/Feuerwehr Ein Unfall ist am Donnerstag­mittag ge gen 13 Uhr auf der Umgehungss­traße bei Burtenbach passiert. Zwei Menschen wurden verletzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany