Mittelschwaebische Nachrichten
„Er ist nicht kriminell, sondern krank“
Warum ein afghanischer Flüchtling nach einer Freiheitsberaubung mit Sozialstunden und Therapie davonkommt
Günzburg In der Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Reisensburg hat ein 18-Jähriger einen Betreuer im Zimmer eingesperrt. Der junge Afghane forderte sein komplettes Essensgeld, der Betreuer wollte ihm nur die Hälfte geben. Wegen räuberischer Erpressung und Freiheitsberaubung stand der Flüchtling jetzt vor dem Jugendschöffengericht in Günzburg.
Eine Verurteilung wegen dieser Delikte hätte dem heute 19-Jährigen eine Jugendstrafe von mindestens sechs Monaten einbringen können. Stattdessen wurde die Rolle des Betreuers als problematisch eingestuft. Der Vorfall habe gezeigt, so Pflichtverteidiger Matthias Egger, dass der Betreuer wohl „nicht der am besten geeignete Mann“gewesen sei. Zur Eskalation war es im Februar gekommen, als der Mann dem 18-Jährigen nur 60 Euro statt der Hälfte des monatlichen Essensgeldes in Höhe von 110 Euro geben wollte. Denn der Flüchtling habe eine Tür demoliert, was sich jedoch als falsch herausstellte. Der Afghane fühlte sich ungerecht behandelt und sperrte den Betreuer ein, der sich laut Anklage bedroht gefühlt habe. Mit dem Handy rief er den Hausmeister, die Sache war so schnell vom Tisch.
Sein Mandant werde wegen seiner psychischen Verfassung selbst nicht aussagen, sagte Anwalt Egger. Er beantragte noch vor der Beweisaufnahme ein Rechtsgespräch, an dem nur Richter, Staatsanwältin und Verteidiger teilnahmen. Das Ergebnis: Eine Jugendstrafe bleibt dem Angeklagten erspart, aber es sind erzieherische Maßnahmen erforderlich, wie Vorsitzender Richter Daniel Theurer informierte. Als gerichtliche Weisung müsse der junge Mann eine ambulante Traumatherapie für sechs Monate besuchen und soziale Arbeitsstunden leisten. Voraussetzung für diese Verständigung ist jedoch ein volles Geständnis.
Das Gericht ist laut Theurer an die Verständigung nicht gebunden, wenn neue Umstände vorliegen oder das Verhalten des Heranwachsenden nicht den Erwartungen entspreche. Für seinen Mandanten räumte Egger die Tat ein. Die Staatsanwältin rückte im Plädoyer vom Vorwurf der räuberischen Erpressung ab: „Der Angeklagte war wohl der Meinung, dass er Anspruch auf das Geld hat.“So blieb es bei versuchter Nötigung und der 15 Minuten dauernden Freiheitsberaubung.
Susanne Czudnochowski von der Jugendgerichtshilfe beschrieb die Verfassung des 19-Jährigen, der 2015 als Vollwaise nach Deutschland gekommen war. Eine Schulausbildung fehlt, aber er lerne intensiv Deutsch und gelte als zuverlässig. Dass sein Verhalten falsch gewesen war, sehe er ein. Der gerichtlich bestellte Betreuer Horst Schmidt klagte, „dass psychisch belastete Flüchtlinge erst entdeckt werden, wenn sie aggressiv werden“. Er bedauere, dass sein Mandant in die kriminelle Ecke gerutscht sei, aber „er ist nicht kriminell, sondern krank“.
Rechtsanwalt Egger sagte, dass es zu einer strafbaren Handlung gekommen sei, die aber nicht sonderlich schlimm war. Der junge Mann sei gut integriert. Eine Traumatherapie für Flüchtlinge wie aus Afghanistan sei sinnvoll. Im Schlusswort entschuldigte sich der Angeklagte über einen Dolmetscher. Er bereue, was passiert sei. Das Urteil fiel mit 60 sozialen Arbeitsstunden und der Fortsetzung der Traumatherapie wie abgesprochen aus. „Das Delikt war nicht so hoch, wie in der Anklage eingestuft“, sagte der Richter.
Im Anschluss an die Verhandlung berichtete der 19-Jährige im Beisein seines bestellten Betreuers unserer Zeitung von der Flucht. Sein Vater sei getötet worden, als er neun Jahre alt war, die Mutter wenig später aus Gram gestorben. Mit älteren Landsleuten entschloss sich der Jugendliche zur Flucht aus der Heimat, weil er dort keine Zukunftsperspektiven gesehen habe. Die führte ihn in den Iran, dann in die Türkei. Das Ziel sei nicht Deutschland gewesen, sondern generell Europa, weil er sich ein besseres Leben erhoffte. Mit anderen Flüchtlingen wurde er in Rosenheim im Zug festgenommen.
Der 19-Jährige will in Deutschland eine Ausbildung zum Schreiner machen, hat aber noch Schwierigkeiten mit seinen schulischen Leistungen. Eine Rückkehr nach Afghanistan werde für ihn kaum infrage kommen, weil er dort keine verwandtschaftlichen Kontakte mehr habe. Betreuer Schmidt ist der Ansicht, dass viele hierzulande anders über Flüchtlinge denken würden, wenn sie mehr über deren Situation wüssten. Er machte deutlich, dass er sich mit dem Afghanen beim Landratsamt über das Verhalten des Betreuers in der Einrichtung beschweren wolle, der zu wenig Fingerspitzengefühl im Umgang mit dem Flüchtling gezeigt habe.