Mittelschwaebische Nachrichten

Zu Gast in Waldheim

Waldheim vor allem für die Friedenska­pelle bekannt. Früher waren Rocker und ein Motorradkl­ub in dem Weiler Stammgäste

- VON IRMGARD LORENZ (TEXTE UND BILDER)

Unsere Serie „Heimat im Kleinen“setzen wir heute fort. Diesmal sind wir zu Gast im Dorf Waldheim, das auch als geografisc­her Mittelpunk­t des Kreises gilt.

Waldheim Es ist schon Jahre her, da hat ein Schotte in der Waldeslust in Waldheim bedient. Eine eher ungewöhnli­che Auswahl an Whiskeys ist heute noch auf der Tafel hinter der Theke angeschrie­ben: Loch Lomond, Glen Grant, Tullamore Dew, Bushmills. Manchmal hat der Mann auch Dudelsack gespielt, erinnert sich Marina Henne, die Ehefrau von Heiner Henne, dem Wirt von Heiners Waldschenk­e. Der Schotte mag bei vielen mittlerwei­le in Vergessenh­eit geraten sein, Marie Hulwa ist es nicht. Sie war die erste Wirtin in Waldheim, dem Weiler auf der Anhöhe zwischen Mindel- und Kammeltal. Er ist vor allem für seine Friedenska­pelle mit dem jährlichen großen Gedenkgott­esdienst bekannt, der immer am ersten Sonntag im August gefeiert wird.

Marie Hulwa war wichtig für den kleinen Weiler. Eine „Kantine“hatten sich die Vertrieben­en beim Anwesen Hulwa gebaut, daraus wurde ein Bierstüble mit Brotzeitst­ation und schließlic­h die Waldeslust. Christine Hanika, 1954 geborene Enkeltocht­er von Fritz und Marie Hulwa, erinnert sich noch gut daran, wie die Großmutter die Gefriertru­he mit Speiseeis bestückt und die Enkelin auch großzügig mit der Süßigkeit bedacht hat. Marie Hulwa ist als letzte Siedlerin 2003 im RotkreuzAl­tenheim in Krumbach gestorben, ihre Familie war aus MährischSc­hlesien vertrieben worden und hatte 1953 schließlic­h als eine von fünf Kleinsiedl­er-Familien eine Bleibe in Waldheim gefunden. Ein bisschen Land gab es jeweils für die Kleinsiedl­er, die südlich der Straße nach Kemnat angesiedel­t wurden, jeweils zwölf Hektar für die drei Großsiedle­r. Auch heute noch gibt es drei Vollerwerb­slandwirte in Waldheim.

Wer den Gehweg entlang der schnurgera­den Straße durch den Weiler spaziert, der sieht stattliche modernisie­rte Häuser und Neubauten ebenso wie Gebäude, bei deren Anblick man sich heute noch vorstellen kann, wie die 1953 bezogenen Siedlerhäu­schen ausgesehen haben. In manchen Gärten gibt es jetzt ein Trampolin oder eine Schaukel, hier dürfen Blumen und Grün frei wachsen, dort ist der Garten akkurat gepflegt. Manchmal halten auch hohe Hecken die Blicke ab.

Drei Ziegen mit dichtem zotteligen braunen Fell trotzen im sattgrünen Gras dem Regen. Ein paar Schritte weiter pickt eine Henne mit dunklem Gefieder friedlich vor einem Haus hier und da in der Wiese. In Waldheim scheint es ein bisschen weniger laut und eilig zuzugehen als woanders. Der Busfahrpla­n ist sehr übersichtl­ich: An Schultagen gibt es morgens eine Verbindung ins Kammeltal nach Behlingen. Mehr nicht.

Den Charme vergangene­r Jahre strahlt die blitzblank­e kleine Gaststube mit den vier Tischen in Heiners Waldschenk­e aus, und auf der hohen Theke mit den Barhockern davor steht ein nostalgisc­h anmutender Erdnussspe­nder. Münze rein, eine Hand unter den Auslass halten, mit der anderen den Hebel drehen und naschen – Generation­en hat das gute Stück überdauert. Und ebenso den Wandel in der kleinen Gaststube.

Vom Motorradkl­ub, den er 1988 gegründet hat, und der zehn Jahre lang in der Waldschenk­e heimisch war, berichtet der 68-jährige Wirt Heiner Henne. Er kam 1984 mit Ehefrau Marina und dem ersten Kind nach Waldheim. „Der wilden Natur wegen“, sagt Marina Henne. Sie ist froh, dass die arbeitsint­ensiven Open-Airs und Betriebsfe­iern in der Waldschenk­e mittlerwei­le Geschichte sind. „Freaks, Rocker und Dörfler“habe man als Gäste gehabt. An Schlachtpa­rtien und Faschingsb­älle erinnert sich der 62-jährige Wolfgang Seitz, der seit 1986 in Waldheim lebt und mit seiner Frau Gertraud das Haus seiner Großeltern – die Richters waren aus dem Sudetenlan­d vertrieben worden und hatten als Kleinsiedl­er in Waldheim Heimat gefunden – übernommen hat.

Christine Hanika, die Enkeltocht­er von Wirtin Marie Hulwa, und damals 21 Jahre jung, stand beim Hochzeitsf­est des Ehepaars Seitz hinter der Theke. Beim Gespräch mit unserer Zeitung, zu dem einige Waldheimer in die Waldschenk­e gekommen waren, zögert sie kurz und ruft dann erfreut: „Ja, du bist doch der Wolfgang!“Christine Hanika wohnt in Thannhause­n und kommt nicht mehr oft nach Waldheim, sie hat den Altersgeno­ssen schon lange nicht mehr gesehen.

Als junges Mädchen half sie der Großmutter öfter in der Waldeslust und erinnert sich auch an einen besonderen Gast: Bruno Merk, von 1960 bis 1966 Landrat des Landkreise­s Günzburg und später bayerische­r Innenminis­ter. Viele Jahre später hatte der kleine Weiler Waldheim wieder einen prominente­n Gast: Karl Carstens. Der kam 1981 als Bundespräs­ident bei seiner Wanderung durch die Bundesrepu­blik Deutschlan­d auch zur Friedenska­pelle bei Waldheim und pflanzte dort eine Friedensli­nde. Die kreisrunde Kapelle am Waldrand ist 1974 auf Initiative des Behlingen-Rieder Soldatenve­reins errichtet worden. Daneben stehen der Glockentur­m und als Mahnmal eine der Betonbombe­n, die ab 1936 über dem Übungsplat­z auf der Höhe zwischen Mindel- und Kammeltal abgeworfen worden sind. „Die Feldkapell­e steht auf meinem Grund“, sagt Ingeborg Greiner, und Stolz klingt dabei mit. Sie ist als Ingeborg Kornecny 1947 in Ried geboren, ihre Familie war aus Nordmähren vertrieben worden und gehörte zu den Siedlerfam­ilien, die 1953 eins der von der Landessied­lung gebauten Häuschen in Waldheim bezogen. Der Anfang war äußerst mühsam und karg, es fehlte an allem, an Werkzeug und Arbeitsger­ät ebenso wie an Saatgut.

Als Kinder mussten sie nach Kräften helfen, erinnern sich die einstigen Siedlerkin­der Ingeborg Greiner, Evi Jonscher und Herti Batke. In Heiners Waldschenk­e werden Erinnerung­en wach. Vom „Mändala aufstella“berichtet Ingeborg Greiner, vom Traktor, den sich fünf Bauern teilten und der ersten ebenfalls gemeinsam genutzten Dreschmasc­hine erzählt Wolfgang Seitz. „Mancher Pflug ist da verreckt“, sagt Herti Batke, wenn noch eine der Betonbombe­n im Boden lag. Ihr Vater Franz Schäfer, so erzählt sie, sei mit der Mutter gern auf der Höhe spaziereng­egangen und habe beschlosse­n, das Land – „alles verkommen, voller Kroatzbeer­en (Brombeeren)“zu roden und nutzbar zu machen. In der Runde am Wirtshaust­isch in der Waldschenk­e fällt dabei immer wieder der Namen des damaligen Rieder Bürgermeis­ters Anton Thoma, der die Heimatvert­riebenen unterstütz­te. Mit geliehenen Pickeln und Hauen rodeten sie und ebneten das Gelände. Emil Vater lebte während der Rodungsarb­eiten eine Zeit lang gar in einer Erdgrube auf der Höhe. Sein Sohn, Alfred Vater, ist mit 85 Jahren der älteste Bewohner Waldheims. Für die aktuelle Statistik über den kleinen Weiler ist am Wirtshaust­isch ein „Zugezogene­r“zuständig: Roland Traxler, der in den 1960er Jahren nach Waldheim kam. Mittlerwei­le gehört er fest zur Gemeinscha­ft und zählt voller Stolz auf, was der Weiler alles zu bieten hat: einen Schreiner, einen Schiffsres­taurator, drei Vollerwerb­slandwirte, eine Kirche, eine Wirtschaft und einen Ballonfahr­er. In den Ställen stehen 200 Stück Vieh, außerdem gibt es drei Geißen, neun Hennen, zwei Laufenten, sechs Pferde, zwei Hasen, mindestens drei Hunde und jede Menge Katzen. 36 Menschen wohnen in Waldheim, davon neun Kinder. Was für viele Landkreisb­ürger in erster Linie ein Ausflugszi­el oder Gedenkstät­te für die vielen Millionen Kriegstote­n ist, die Friedenska­pelle, gehört für sie zum alltäglich­en Leben. „Wir sehen sie jeden Tag vom Schlafzimm­erfenster aus“, sagt Wolfgang Seitz. Aber der Gedenkgott­esdienst Anfang August ist dann doch etwas Besonderes, auch für die Waldheimer, „ergreifend“sagen sie. „Wenn früher Besuch zu uns kam, war der erste Weg zur Kapelle“, sagt Herti Batke. Das hat sich im Lauf der Jahre geändert, wie so vieles im kleinen Weiler Waldheim.

 ??  ?? Beim Treffen mit der Günzburger Zeitung in der Waldheimer Waldschenk­e wurden viele Erinnerung­en an teilweise weit zurücklieg­ende Jahre und Begebenhei­ten wach. Alte Fotos, Zeitungsau­sschnitte und Bücher mach ten die Runde bei (von links) Ingeborg...
Beim Treffen mit der Günzburger Zeitung in der Waldheimer Waldschenk­e wurden viele Erinnerung­en an teilweise weit zurücklieg­ende Jahre und Begebenhei­ten wach. Alte Fotos, Zeitungsau­sschnitte und Bücher mach ten die Runde bei (von links) Ingeborg...
 ??  ?? Auf dem Foto ist Christine Hanika noch ein Mädchen. Es zeigt sie mit ihrem Großvater Fritz Hulwa, einem der ersten Siedler von Waldheim, am Fenster der Waldeslust.
Auf dem Foto ist Christine Hanika noch ein Mädchen. Es zeigt sie mit ihrem Großvater Fritz Hulwa, einem der ersten Siedler von Waldheim, am Fenster der Waldeslust.
 ??  ?? Ein farbiger Fries schmückt das Innere der Friedenska­pelle in Waldheim. Sie wurde 1974 auf Initiative des Behlingen Rieder Soldatenve­reins errichtet.
Ein farbiger Fries schmückt das Innere der Friedenska­pelle in Waldheim. Sie wurde 1974 auf Initiative des Behlingen Rieder Soldatenve­reins errichtet.
 ??  ?? Das ist der Blick von der Friedenska­pelle auf den Weiler Waldheim. Einmal im Jahr findet in der Kapelle ein großer Gedenkgott­esdienst für die Opfer von Kriegen statt.
Das ist der Blick von der Friedenska­pelle auf den Weiler Waldheim. Einmal im Jahr findet in der Kapelle ein großer Gedenkgott­esdienst für die Opfer von Kriegen statt.
 ??  ?? Seit 33 Jahren ist Heiner Henne, unterstütz­t von seiner Frau Marina, der Wirt in Hei ners Waldschenk­e.
Seit 33 Jahren ist Heiner Henne, unterstütz­t von seiner Frau Marina, der Wirt in Hei ners Waldschenk­e.
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Gedenkbild an einem Baum bei der Frie denskapell­e.

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