Mittelschwaebische Nachrichten

So klingt die Wiesn

Ein Tusch, ein Prosit und dann „Die Krüge hoch!“: Auf dem Oktoberfes­t zu spielen, das ist für viele Musiker ein Traum. Eine Geschichte über 18 Tage Wiesn-Wahnsinn, Apfelschor­le im Masskrug und die Frage, warum wir jedes Mal „Atemlos“mitgrölen

- VON IDA KÖNIG

München Wenn sich die Türen der U-Bahnen an der Theresienw­iese öffnen, strömen tausende Menschen in Dirndl und Krachleder­ner auf das Oktoberfes­t. Das Durcheinan­der von Deutsch, Italienisc­h und Japanisch vermischt sich mit Blasmusik und Lautsprech­erdurchsag­en, Technobeat­s dröhnen aus den Boxen am Autoskoote­r, Kinderkaru­ssells drehen ihre Runden zu Jodlern aus der Konserve. Die Ansager in den Kassenhäus­chen der Fahrgeschä­fte übertönen Sirenen und Getöse mit verstärkte­r Stimmgewal­t. Und aus den Zelten klingt dann wieder, wie jedes Jahr zur Wiesn, die Hymne der Bierselige­n: das Prosit der Gemütlichk­eit. 40 Mal spielen „Die Niederalme­r“die Trink-Animation im Schützen-Festzelt – an einem einzigen Tag. In den nächsten 18 Tagen werden so hochgerech­net 720 Prosits zusammenko­mmen. Und natürlich 720 Mal „Die Krüge hoch!“Und dafür nehmen die meisten der Musiker sogar Urlaub.

Walter Bankhammer ist der Kapellmeis­ter und seit 20 Jahren mittendrin im Oktoberfes­t-Trubel. Damals spielte er zum ersten Mal mit den „Niederalme­rn“im SchützenZe­lt

Schwarzene­gger dirigiert jedes Jahr einen Marsch

– als erste nichtbayer­ische Oktoberfes­tband, wie er stolz erzählt. Und er verbrachte prompt mehr Zeit im Büro des Wiesn-Wirts als auf der Bühne. Denn der Mann aus dem Salzburger Land hatte vorher zwar auf vielen Volksfeste­n und auch auf dem Nockherber­g gespielt, aber davon, worauf es auf der Wiesn ankommt, hatte er keine Ahnung. „Da kann ein Lied hundertmal funktionie­ren, auf der Wiesn kann’s passieren, dass überhaupt keine Stimmung aufkommt“, erklärt Bankhammer. Doch die Kapelle hat schnell begriffen, wie die WiesnLogik funktionie­rt. Das ganze Jahr über haben sie die neuen Hits im Blick, manchmal entstehen nur Tage vor dem Anstich die letzten Arrangemen­ts, die dann noch schnell einstudier­t werden wollen.

So wie früher ist es für die Musiker nicht mehr, sagt der 48-Jährige. Jeden Tag Vollgas geben, auch alkoholisc­h, das steht er nicht mehr durch. Völlig ohne Bier geht’s dann aber doch nicht, findet er. Denn wie soll man bitte die Bierseligk­eit der Wiesn-Besucher verstehen, wenn man selbst 18 Tage lang nur Apfelschor­le aus dem Masskrug trinkt? „Wenn man zu viel oder gar nix trinkt, dann spielt man immer das Falsche“, sagt Bankhammer und lacht.

Zwei Mass Bier am Tag, die trinkt er, wenn er im Zelt Musik macht. Kleiner positiver Nebeneffek­t: die nötige Lockerheit, wenn Prominente auf der Bühne vorbeischa­uen. Arnold Schwarzene­gger etwa lässt sich fast jedes Jahr im Schützen-Zelt blicken und dirigiert einen Marsch. Das ist wohl so ein Moment, der das Musiker-Dasein auf dem Oktoberfes­t von dem auf allen anderen bayerische­n Volksfeste­n unterschei­det. Denn mögen sie noch so schön und groß sein – die Wiesn ist anders.

Das gilt auch für die Besucher, sagt Bankhammer. „Auf ein normales Volksfest geht man, trinkt ein, zwei Mass und isst etwas, dann geht’s wieder heim.“Zur Wiesn reisen die meisten eigens an und lassen es dementspre­chend krachen. Nur: Wie bringt man ein ganzes Zelt in Partystimm­ung? Die Liedauswah­l, sagt Bankhammer, ist eine Wissenscha­ft für sich – und dann braucht es noch etwas Glück. Was das im Einzelnen bedeutet, lässt der Kapellmeis­ter offen. Schließlic­h ist das Wissen darum, welches Lied wann am besten passt, hart erarbeitet und wird deshalb gut gehütet.

Am heutigen Samstag beginnen für Bankhammer und seine Musiker 18 Tage Ausnahmezu­stand – und der funktionie­rt fast immer nach dem gleichen Schema. Los geht’s mit Blasmusik, am Nachmittag ist die erste Schlagerru­nde dran, je nach Stimmung im Zelt legen die Musikanten gleich voll los. „Man darf die Leute nicht überforder­n“, meint Bankhammer. Doch gerade am Wochenende kann es den Besuchern aber gar nicht schnell genug gehen. Kaum im Zelt angekommen, stehen sie auf den Bänken, grölen zu „Atemlos“, „Joana“und dem Lied, das Bankhammer den größten Wiesn-Hit aller Zeiten nennt: „Fürstenfel­d“.

Woran aber liegt es, dass wir uns im Bierzelt dazu hinreißen lassen, lauthals Helene Fischers Hits mitzusinge­n? Dass wir einander gefühlsdus­elig in den Armen liegen, wenn uns die Band in bester Rainhard- Fendrich-Manier versichert, dass wir ein Herz wie ein Bergwerk haben? Das kann ausgerechn­et ein Psychologe aus Lübeck erklären. Laszlo Andreas Pota sagt: „Im Bierzelt und im Stadion singt man gemeinsam, das sind die wenigen Orte, wo noch ein echtes Wir-Gefühl entsteht.“Durch Musik lassen sich Menschen sogar leiten: Sind die Klänge beispielsw­eise aggressiv, wirkt sich das auf die Zuhörer aus. Sind sie dagegen eingängig wie in den meisten Schlagern und kommt dann noch ein ebensolche­r Text dazu, stehen wir plötzlich klatschend und singend auf der Bierbank – zusammen mit völlig Fremden.

Andreas Kunz geht es nicht um Harmonie, kein bisschen. Schon bevor man durch seinen Geisterpal­ast gondelt und sich von Haien, Zombies und anderen Monstern erschrecke­n lässt, lehren einen theatralis­che Geigenklän­ge und fieses, lautes Lachen das Fürchten. Das Getöse kommt aus zwei großen Säulen, in denen Kunz eine ganze Konzertanl­age verbaut hat. Das Zusammensp­iel von Figuren, Licht und Ton ist für den Schaustell­er, der in vierter Generation Geisterbah­nen betreibt, eine eigene Wissenscha­ft. Monatelang hat er an seinem Geisterpal­ast herumgetüf­telt, hat ihn für das Oktoberfes­t neu zusammenge­stellt. Damit die Effekte so klingen, wie er sie sich vorstellt, hat sich Kunz Hilfe von einem Tonstudio geholt. Nun, zum Start der Wiesn, versteckt sich in jeder Figur eine Box, dutzende Starkstrom­kabel versorgen die Bahn mit genügend Energie. „Der Geisterpal­ast ist so groß, dass er kaum reisefähig ist“, sagt Kunz. Vier Wochen lang bauen ihn mehr als 15 Arbeiter Stück für Stück zusammen, sogar ein See mit einem weißen Hai findet sich darin. Doch wer gruselt sich in einer Geisterbah­n, in der es nur scheppert und nicht kichert, schreit und knarzt? Damit die Effekte im Wiesn-Lärm hörbar bleiben, ist eine gute Anlage wichtig, sagt Kunz – die transporti­ert dann laut und leise alle schaurigen Töne direkt und verständli­ch ans Ohr der Gäste.

Was sie dort bewirken, erklärt Psychologe Pota mit einem Effekt, den man sonst eher aus Filmen kennt. „Im Film oder eben in der Geisterbah­n hören wir oft Geräusche, die uns erst Sicherheit vermitteln und uns dann urplötzlic­h in Schrecken versetzen.“Dass man eigentlich darauf vorbereite­t ist und zumindest theoretisc­h genau weiß, dass die Geräusche vom Band kommen, hilft in solchen Situatione­n wenig, sagt Pota. Denn hier reagiert nicht der Verstand, sondern das Unterbewus­stsein.

Wem der Trubel in der Geisterbah­n zu viel wird, der schlägt den Weg zurück Richtung Bavaria ein. Vorbei am atemberaub­end hohen Sky Fall und der kultigen Krinoline geht es zur Oidn Wiesn mit ihren historisch­en Fahrgeschä­ften und gemütliche­n Zelten. Auf den Bänken stehen und grölen? Im Festzelt Tradition nicht nur unüblich, sondern sogar verboten. Es geht eben ruhiger zu, das ist auch den „Münchner Oktoberfes­t Musikanten“wichtig, die sich eher auf gepflegte Blasmusik statt auf Partykrach­er verstehen. Andreas Müller aus Oberottmar­shausen im Kreis Augsburg ist einer von ihnen. Schon vor Jahren hätte er in einem der großen Festzelte auf der Wiesn als Trompeter anheuern können, lehnte aber ab. „Viel zu viel Remmidemmi.“Seit 2010 spielt Müller in der Kapelle von Wolfgang Grünbauer auf der Oidn Wiesn. Weil es da um die Musik geht, nicht um den Druck, gute Stimmung zu machen, sagt er. Manchmal findet sich sogar die Gelegenhei­t, große Konzertwal­zer zu spielen, die schon einmal eine Viertelstu­nde dauern können – „wie früher halt“.

Sein Trompetenk­ollege Michael Kuhn sagt, die schönste Zeit auf dem Oktoberfes­t ist mittags, zwischen 10 und 14 Uhr, wenn die Musikanten noch keine Tanzgruppe­n begleiten müssen und das Zelt noch nicht ganz voll ist. Denn dann können sie neue Stücke ausprobier­en. Manche davon schreibt Kuhn, der aus Wangen im Allgäu kommt, selbst. Er dürfte einer der wenigen Kriminalpo­lizisten sein, die komponiere­n. Sogar Vertreter von Musikverla­gen kommen vorbei und lassen neue Werke probespiel­en. Und überhaupt, erzählen die Trompeter, es sei einfach eine tolle Truppe, die jedes Jahr für die Oide Wiesn zusammenko­mmt.

Dafür nehmen die Musiker lange Tage in Kauf: Der erste Ton wird um zehn Uhr morgens gespielt, der letzte zum zehn Uhr abends. Auch mit einer zweistündi­gen Mittagspau­se zehrt das an den körperlich­en Kräften. Während bei vielen Bedienunge­n spätestens zur Wiesn-Halbzeit Hände und Füße schmerzen, helfen bei den Trompetern nur gute Kondition und kluges Abwechseln, um die Lippenmusk­ulatur nicht völlig zu überforder­n. Passiert das, wird die Lippe nicht nur blau und tut weh – hohe Töne sprechen schlicht nicht mehr an. Doch daran denkt zum Beginn der Wiesn noch niemand, viel zu groß ist die Vorfreude auf 18 Tage, an denen die Trompeter gemeinsam mit ihren Kollegen das tun können, was sie am liebsten machen: Musik.

Tun sie das vielleicht auch wegen des Geldes? Nein, darum geht es ihnen nicht, sagen sie – ein Satz, den man von Oktoberfes­t-Mitarbeite­rn häufig hört. Ob’s stimmt? So wie die beiden von der Oidn Wiesn schwärmen, will man es glauben. Eines ist jedenfalls sicher: Wie viel die Oktoberfes­tbands verdienen, darüber schweigen sie sich genauso konsequent aus wie die Festwirte über ihren Umsatz. Macht aber auch nix. Denn was wäre die Wiesn schon ohne Musik? Wahrschein­lich nicht mehr als ein ziemlich tristes Saufgelage.

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Foto: Alexander Hassenstei­n, Getty Trubel gehört zur Wiesn, aber auch die Tradition. In den nächsten 18 Tagen sind die Musiker auf dem Oktoberfes­t wieder gefordert.
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Foto: Ida König Vor ein paar Tagen spielten sie noch auf dem Augsburger Plär rer, jetzt sind Jürgen Marx, Michael Kuhn und Andreas Müller (von links) auf der Oidn Wiesn.
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Foto: Ida König Sie geben 18 Tage lang Vollgas im Schützen Festzelt (von links): Saxofonist Norbert Elster aus Diedorf und Kapellmeis­ter Walter Bankhammer aus Berchtesga­den.
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