Mittelschwaebische Nachrichten
Wohin führt das neue Bundesteilhabegesetz?
Von der Politik als großer Wurf gefeiert, sehen die Vertreter von Behinderteneinrichtungen wie dem Dominikus-Ringeisen-Werk nicht nur positive Effekte. Vor allem die Menschen in Heimen könnten benachteiligt sein
Ursberg Fast ein Jahrzehnt wurde an dem Bundesteilhabegesetz gefeilt. In der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention soll das Gesetz Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung und mehr Teilhabe ermöglichen. Gleichzeitig will der Gesetzgeber aber nicht mehr Geld ausgeben.
Dieser Vorsatz löst vor allem bei den in der Behindertenarbeit beschäftigten Menschen Skepsis aus. „Das ist ein Widerspruch in sich“, sagt Wolfgang Tyrychter, Vorstandsmitglied des Dominikus-Ringeisen-Werks. Einer der Knackpunkte
„Wir sind dabei, das Thema Inklusion zu übertreiben. Wenn die Strukturen mal weg sind, wird es sehr schwer, sie hinterher wieder aufzubauen.“
Dr. Georg Nüßlein
des Gesetzes ist etwa die Trennung von Leistungen. Demnach erhalten künftig alle erwachsenen Menschen mit Behinderung die Grundsicherung zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts und ihres Wohnraums, egal ob sie im Heim oder in der eigenen Wohnung leben. Es sei richtig, behinderten Menschen das Recht in die Hände zu geben, selbst über ihr Leben zu bestimmen, sagt Tyrychter.
Am Ringeisen-Werk geht aber die Sorge um, dass insbesondere schwerst-mehrfachbehinderte Menschen dabei ins Hintertreffen geraten könnten. „Hier in Ursberg gibt es sehr spezielle Wohnformen mit Spezialausstattungen. Die auf Basis der Sozialmiete zu finanzieren, wird sehr spannend“, sagt Tyrychter. Natürlich biete auch das neue Bundesteilhabegesetz „kleine Fenster“,die einen gewissen Auslegungsspielraum zulassen oder Umwege bei der Finanzierung ermöglichen. Oft sei das Gesetz aber sehr pauschalisiert.
„Das Problem ist: Es gibt nicht den Behinderten“, fasst CSU-Bundestagsabgeordneter Dr. Georg Nüßlein das Grundproblem solcher Gesetzgebungsverfahren zusammen. Zudem sei die gesamte Inklusionsdebatte sehr „heimkritisch“. Es habe ihn große Mühe gekostet, „die Leute davon zu überzeugen, wie wichtig solche Einrichtungen wie das Ringeisen-Werk in Ursberg“seien, sagt Nüßlein und mahnt: „Wir sind dabei, das Thema Inklusion zu übertreiben. Wenn die Strukturen mal weg sind, wird es sehr schwer, sie hinterher wieder aufzubauen.“
Im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens habe er jedoch lernen müssen, wie weit die Anschauungen in Behindertenpolitik zum Teil auseinander liegen. Ihm sei es wichtig gewesen, die Vorgaben so zu gestalten, dass die Betroffenen auch noch die Chance haben, sie umzusetzen.
Die Umsetzung des Gesetzes will er „pragmatisch“angehen. Man müsse schauen, was machbar sei. Wenn ein Punkt unnötig sei oder gar drohe, die Grundlagen von Einrichtungen wie dem Ringeisen-Werk zu zerstören, dann sei für ihn der „casus belli“gegeben, „dann muss man da noch einmal drüber reden. Man muss ja nicht so tun, als wäre das die letzte Änderung an diesem Gesetz gewesen.“
Bei der konkreten Ausgestaltung des Gesetzes kommen wiederum die Länder ins Spiel, die bei der Ausführung durch eigene Gesetze einen gewissen Spielraum haben. Für den Freistaat liegt bereits ein entsprechender Entwurf vor. „Da könnte man noch an der ein oder anderen Stelle drehen“, sagt Tyrychter. So etwa auch an der bayerischen „Ausder führungsverordnung zum Pflegeund Wohnqualitätsgesetz“, nach dessen Vorgaben die Wohngruppen, in denen jetzt jeder Bewohner einen Wohnraum mit Nasszelle zwischen zwölf und 16 Quadratmeter hat, umgebaut werden müssten, um die vorgeschriebene Mindestgröße der Einzelzimmer von 14 Quadratmetern zu erreichen. Theoretisch müsste ein Wohnheim wie St. Dominikus, das gerade einmal 19 Jahre alt ist, komplett entkernt und neu gebaut werden. Am Ende, so die Befürchtungen im Vorstand des Ringeisen-Werks, kämen dabei völlig unwirtschaftliche Gruppengrößen heraus.
Ein Kritikpunkt ist auch der mit dem Gesetz verbundene Verwaltungsaufwand. Verträge, Rechnungen, das alles muss umgestellt werden. Hinzu kommt, dass den Kostenträgern mehr Prüfungs- und Kontrollrechte eingeräumt werden. Mit dem Effekt, dass der Dokumentationsaufwand wächst, was wiederum Kräfte bindet, die in der Pflege fehlen. „Das macht uns viel Arbeit“, sagt Tyrychter, „wir sehen uns vor einem großen Berg. Wir kennen die Wege noch nicht, müssen jetzt aber loslaufen. Wir tasten uns einfach voran.“
Dass die individuellen Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderung nicht pauschal über einen Kamm geschert werden können, ist auch bei der Staatsregierung angekommen. „Inklusion darf nicht zur Ideologie werden“, erklärt der zuständige Staatssekretär Johannes Hintersberger nach einem seiner Besuche im Ringeisen-Werk, es müsse stets der Einzelne im Mittelpunkt stehen.
CSU-Landtagsabgeordneter Alfred Sauter fasst es als Arbeitsauftrag auf, die Anliegen von Einrichtungen wie dem DRW aufzunehmen und sie in konkrete politische Entscheidungen zu integrieren. „Wir können nicht immer wieder nach solchen Besuchen sagen, wie bewundernswert die Arbeit ist, die hier gemacht wird, und dann alles beim Alten lassen.“
Tyrychter kann solche Aussagen nur unterstreichen. Er hofft, dass darauf tatsächlich Taten folgen. „Sozialpolitik für behinderte Menschen ist eine Nische“, sagt Tyrychter, „da ist auch das Wählerpotenzial eher klein.“Doch durch die räumliche Nähe und die regelmäßigen Besuche hätten die heimischen Bundes- und Landtagsabgeordneten ein deutlich besseres Verständnis für die Belange der Menschen im DRW.