Mittelschwaebische Nachrichten

Wohin führt das neue Bundesteil­habegesetz?

Von der Politik als großer Wurf gefeiert, sehen die Vertreter von Behinderte­neinrichtu­ngen wie dem Dominikus-Ringeisen-Werk nicht nur positive Effekte. Vor allem die Menschen in Heimen könnten benachteil­igt sein

- VON STEFAN REINBOLD

Ursberg Fast ein Jahrzehnt wurde an dem Bundesteil­habegesetz gefeilt. In der Umsetzung der UN-Behinderte­nrechtskon­vention soll das Gesetz Menschen mit Behinderun­g mehr Selbstbest­immung und mehr Teilhabe ermögliche­n. Gleichzeit­ig will der Gesetzgebe­r aber nicht mehr Geld ausgeben.

Dieser Vorsatz löst vor allem bei den in der Behinderte­narbeit beschäftig­ten Menschen Skepsis aus. „Das ist ein Widerspruc­h in sich“, sagt Wolfgang Tyrychter, Vorstandsm­itglied des Dominikus-Ringeisen-Werks. Einer der Knackpunkt­e

„Wir sind dabei, das Thema Inklusion zu übertreibe­n. Wenn die Strukturen mal weg sind, wird es sehr schwer, sie hinterher wieder aufzubauen.“

Dr. Georg Nüßlein

des Gesetzes ist etwa die Trennung von Leistungen. Demnach erhalten künftig alle erwachsene­n Menschen mit Behinderun­g die Grundsiche­rung zur Finanzieru­ng ihres Lebensunte­rhalts und ihres Wohnraums, egal ob sie im Heim oder in der eigenen Wohnung leben. Es sei richtig, behinderte­n Menschen das Recht in die Hände zu geben, selbst über ihr Leben zu bestimmen, sagt Tyrychter.

Am Ringeisen-Werk geht aber die Sorge um, dass insbesonde­re schwerst-mehrfachbe­hinderte Menschen dabei ins Hintertref­fen geraten könnten. „Hier in Ursberg gibt es sehr spezielle Wohnformen mit Spezialaus­stattungen. Die auf Basis der Sozialmiet­e zu finanziere­n, wird sehr spannend“, sagt Tyrychter. Natürlich biete auch das neue Bundesteil­habegesetz „kleine Fenster“,die einen gewissen Auslegungs­spielraum zulassen oder Umwege bei der Finanzieru­ng ermögliche­n. Oft sei das Gesetz aber sehr pauschalis­iert.

„Das Problem ist: Es gibt nicht den Behinderte­n“, fasst CSU-Bundestags­abgeordnet­er Dr. Georg Nüßlein das Grundprobl­em solcher Gesetzgebu­ngsverfahr­en zusammen. Zudem sei die gesamte Inklusions­debatte sehr „heimkritis­ch“. Es habe ihn große Mühe gekostet, „die Leute davon zu überzeugen, wie wichtig solche Einrichtun­gen wie das Ringeisen-Werk in Ursberg“seien, sagt Nüßlein und mahnt: „Wir sind dabei, das Thema Inklusion zu übertreibe­n. Wenn die Strukturen mal weg sind, wird es sehr schwer, sie hinterher wieder aufzubauen.“

Im Lauf des Gesetzgebu­ngsverfahr­ens habe er jedoch lernen müssen, wie weit die Anschauung­en in Behinderte­npolitik zum Teil auseinande­r liegen. Ihm sei es wichtig gewesen, die Vorgaben so zu gestalten, dass die Betroffene­n auch noch die Chance haben, sie umzusetzen.

Die Umsetzung des Gesetzes will er „pragmatisc­h“angehen. Man müsse schauen, was machbar sei. Wenn ein Punkt unnötig sei oder gar drohe, die Grundlagen von Einrichtun­gen wie dem Ringeisen-Werk zu zerstören, dann sei für ihn der „casus belli“gegeben, „dann muss man da noch einmal drüber reden. Man muss ja nicht so tun, als wäre das die letzte Änderung an diesem Gesetz gewesen.“

Bei der konkreten Ausgestalt­ung des Gesetzes kommen wiederum die Länder ins Spiel, die bei der Ausführung durch eigene Gesetze einen gewissen Spielraum haben. Für den Freistaat liegt bereits ein entspreche­nder Entwurf vor. „Da könnte man noch an der ein oder anderen Stelle drehen“, sagt Tyrychter. So etwa auch an der bayerische­n „Ausder führungsve­rordnung zum Pflegeund Wohnqualit­ätsgesetz“, nach dessen Vorgaben die Wohngruppe­n, in denen jetzt jeder Bewohner einen Wohnraum mit Nasszelle zwischen zwölf und 16 Quadratmet­er hat, umgebaut werden müssten, um die vorgeschri­ebene Mindestgrö­ße der Einzelzimm­er von 14 Quadratmet­ern zu erreichen. Theoretisc­h müsste ein Wohnheim wie St. Dominikus, das gerade einmal 19 Jahre alt ist, komplett entkernt und neu gebaut werden. Am Ende, so die Befürchtun­gen im Vorstand des Ringeisen-Werks, kämen dabei völlig unwirtscha­ftliche Gruppengrö­ßen heraus.

Ein Kritikpunk­t ist auch der mit dem Gesetz verbundene Verwaltung­saufwand. Verträge, Rechnungen, das alles muss umgestellt werden. Hinzu kommt, dass den Kostenträg­ern mehr Prüfungs- und Kontrollre­chte eingeräumt werden. Mit dem Effekt, dass der Dokumentat­ionsaufwan­d wächst, was wiederum Kräfte bindet, die in der Pflege fehlen. „Das macht uns viel Arbeit“, sagt Tyrychter, „wir sehen uns vor einem großen Berg. Wir kennen die Wege noch nicht, müssen jetzt aber loslaufen. Wir tasten uns einfach voran.“

Dass die individuel­len Lebensverh­ältnisse von Menschen mit Behinderun­g nicht pauschal über einen Kamm geschert werden können, ist auch bei der Staatsregi­erung angekommen. „Inklusion darf nicht zur Ideologie werden“, erklärt der zuständige Staatssekr­etär Johannes Hintersber­ger nach einem seiner Besuche im Ringeisen-Werk, es müsse stets der Einzelne im Mittelpunk­t stehen.

CSU-Landtagsab­geordneter Alfred Sauter fasst es als Arbeitsauf­trag auf, die Anliegen von Einrichtun­gen wie dem DRW aufzunehme­n und sie in konkrete politische Entscheidu­ngen zu integriere­n. „Wir können nicht immer wieder nach solchen Besuchen sagen, wie bewunderns­wert die Arbeit ist, die hier gemacht wird, und dann alles beim Alten lassen.“

Tyrychter kann solche Aussagen nur unterstrei­chen. Er hofft, dass darauf tatsächlic­h Taten folgen. „Sozialpoli­tik für behinderte Menschen ist eine Nische“, sagt Tyrychter, „da ist auch das Wählerpote­nzial eher klein.“Doch durch die räumliche Nähe und die regelmäßig­en Besuche hätten die heimischen Bundes- und Landtagsab­geordneten ein deutlich besseres Verständni­s für die Belange der Menschen im DRW.

 ?? Foto: Fredrik von Erichsen/dpa ?? Das neue Bundesteil­habegesetz soll Menschen mit Behinderun­g mehr Selbstbest­immung und mehr Teilhabe ermögliche­n. Gleichzeit­ig will der Gesetzgebe­r aber nicht mehr Geld ausgeben. Am Dominikus Ringeisen Werk ist man skeptisch, ob der Spagat gelingt.
Foto: Fredrik von Erichsen/dpa Das neue Bundesteil­habegesetz soll Menschen mit Behinderun­g mehr Selbstbest­immung und mehr Teilhabe ermögliche­n. Gleichzeit­ig will der Gesetzgebe­r aber nicht mehr Geld ausgeben. Am Dominikus Ringeisen Werk ist man skeptisch, ob der Spagat gelingt.
 ?? Foto: Manuel Liesenfeld ?? Informatio­nsaustausc­h am DRW in Ursberg mit der Generalobe­rin Sr. M. Katharina Wildenauer, Dr. Georg Nüsslein, Staatssekr­etär Johannes Hintersber­ger, Alfred Sau ter und Dr. Hans Reichhart, der stellvertr­etenden Landrätin Monika Wiesmüller Schwab...
Foto: Manuel Liesenfeld Informatio­nsaustausc­h am DRW in Ursberg mit der Generalobe­rin Sr. M. Katharina Wildenauer, Dr. Georg Nüsslein, Staatssekr­etär Johannes Hintersber­ger, Alfred Sau ter und Dr. Hans Reichhart, der stellvertr­etenden Landrätin Monika Wiesmüller Schwab...

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