Mittelschwaebische Nachrichten

Warum es auf Island so viele Worte für Stille gibt

Island Die Insel im Nordatlant­ik ist bekannt für eisige Gletscher, lavaspucke­nde Vulkane und schnaubend­e Geysire. Das hat sie beliebt gemacht. Abseits der Touristens­tröme strahlt sie eine unerhörte Ruhe aus / Von Marcel Rother

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Im Dunkeln ist die Stille besonders laut, heißt es. In Island ist es über weite Strecken des Jahres Nacht. Nur kurze drei Stunden am Tag streift die Sonne in den Wintermona­ten die Insel knapp unter dem nördlichen Polarkreis. Touristen besuchen das abgelegene Eiland trotzdem, vielleicht gerade deswegen. Im langen, dunklen Winter sind es die Nordlichte­r, im kurzen, hellen Sommer die Mitternach­tssonne, immer aber ist es eines, das Menschen aus aller Welt an diesen entlegenen Ort im Atlantik zieht, irgendwo zwischen Europa und Amerika: eine Natur, entfesselt, gewaltig und erhaben wie selten.

Die Finanzkris­e hat das westlichst­e Land Europas schwer getroffen. Anderersei­ts erlebt die Insel seit genau jener Zeit einen touristisc­hen Aufschwung. Grund dafür ist der Vulkan Eyjafjalla­jökull, der 2010 seine Asche quer über Europa spuckte. Damit hat er nicht nur flächendec­kend den Flugverkeh­r lahmgelegt und für Zungenbrec­her gesorgt, sondern die Insel mit einem Wumms berühmt gemacht. Die Touristenz­ahlen steigen und steigen. Insider nehmen sogar schon das böse M-Wort in den Mund: Island, die Erhabene, ein „Mallorca des Nordens“. Ja, vielleicht im Sommer ein bisschen, ja, vielleicht am ehesten im Süden und ja, in der Hauptstadt Reykjavík wohl tatsächlic­h.

Ein dunkler Fleck auf der Landkarte und für Islandreis­ende weiterhin ein Geheimtipp hingegen ist der Westen. Nur rund zehn Prozent aller Besucher verschlägt es in den abgeschied­enen Landstrich mit seinen ausgedehnt­en Fjorden und der unberührte­n Landschaft, in der sich brüchige Straßen den Atlantik entlang, über Zentralmas­sive hinweg, vorbei an Fjorden schlängeln, an deren Ufern sich nur ab und an ein kleines Fischerdor­f in die ansonsten menschenle­ere Mondlandsc­haft duckt. Selbst die meisten Isländer kommen kaum öfter als zweimal im Leben dorthin – die Infrastruk­tur ist spärlich, die Distanzen sind groß, die Ruhe ist überwältig­end.

Einheimisc­he wie Besucher stehen ehrfürchti­g vor der Naturgewal­t, die einen magischen Zauber ausübt. Nicht ohne Grund wird Island als Land der Mythen und Sagen bezeichnet, und nicht ohne Grund stammen viele von ihnen aus dem Westen der Insel. Noch heute sind Fabelwesen fester Bestandtei­l des isländisch­en Schulunter­richts, und einer Studie der University of Iceland zufolge glauben tatsächlic­h 54 Prozent aller Isländer an Trolle, Elfen und Naturgeist­er. Immer, wenn sich auf der Insel unerklärli­che Phänomene ereignen, werden sie ins Feld geführt. Etwa im Jahr 2010, als in der Blauen Lagune, einem beliebten Geothermal­bad, das Restaurant erweitert werden und näher an unterirdis­che Quellen heranrücke­n sollte. Damals streikten aus unerfindli­chen Gründen die Baumaschin­en. Wer war schuld? Die Elfen natürlich!

Was für Durchschni­ttseuropäe­r merkwürdig klingt, wird für Touristen mit jedem Tag auf der Insel naheliegen­der. Mit jedem Kilometer Abstand zu Reykjavik – der Großstadt mit ihren Restaurant­s, Theatern und Museen – schwindet die Zivilisati­on und mit ihr das, was gerade noch selbstvers­tändlich war. Straßen werden zu Schotterpi­sten, Schotterpi­sten zu Pfaden, Pfade verlieren sich in endlosen Geröllfeld­ern. Der Mensch schrumpft im selben Maß, wie die Natur wächst, bis sich beide gegenübers­tehen, Aug’ in Aug’.

Der Sprung zu einer mythischen Weltsicht, in der die Landschaft spricht und der Mensch antwortet, ist von da aus nicht weit. Für Einheimisc­he noch näher, wenn nicht selbstvers­tändlich. Das Naturverst­ändnis, das die westliche Welt seit der Aufklärung prägt, spätestens seit René Descartes den Menschen vollmundig zum „Herrscher und Besitzer der Natur“ausgerufen hat, scheint auf Island nicht zu greifen. Vielmehr scheint es jenseits des 60. Breitengra­ds an seine Grenze gekommen, an Klippen zerschellt, verhallt im Rauschen des Ozeans.

In unübersich­tlichen Zeiten sucht der Mensch das Berechenba­re, auch im Urlaub. Sonne, Strand und Vollpensio­n bietet Island nicht, dafür lehrt die Insel Existenzie­lles: die Unberechen­barkeit der Natur. Bei- spiel Wetter: Auf der Insel liegen Sonne, Wind und Regen in einem ständigen Wettstreit, jeder Tag gleicht gefühlt einem Ritt durch die Jahreszeit­en. Wo gerade eben noch Windböen abstrakte Muster in metallisch glänzende Wasserober­flächen peitschten und Wellen sekündlich in unterschie­dliche Richtungen tanzten, kann es auf einmal windstill sein. So ist das auf Island. Wem das Wetter nicht gefällt, der soll fünf Minuten warten, sagen die Isländer.

Die Insel mit ihrer schroffen Schönheit drängt sich nicht auf, präsentier­t ihre Pracht nicht in braver Postkarten­manier. Im Gegenteil, die Natur kann gefährlich werden. Vulkanausb­rüche, Erdbeben und Lawinenabg­änge sind eine ständige Bedrohung, nicht nur für Touristen. Verantwort­lich ist ein Riss im Boden der Vulkaninse­l, der Nordamerik­a und Europa – plattentek­tonisch – trennt. Jedes Jahr 2,5 Zentimeter mehr. Hier wirken Urkräfte. Resultat: 130 Vulkane, 30 davon aktiv. An kaum einem Ort der Welt ist die vulkanisch­e Aktivität höher. Jules Verne schickte die Helden seines Romans „Die Reise zum Mittelpunk­t der Erde“von Island aus ins Abenteuer. Nicht dumm.

Diese Umgebung verändert den Menschen. Den Isländer hat sie pragmatisc­h gemacht: Werden die Straßen im Winter in höheren Lagen oder durch Erdrutsche und Gerölllawi­nen unpassierb­ar, packt er dicke Reifen auf die Pick-ups und versucht es trotzdem. Geht es gar nicht mehr, steigt er auf Schneemobi­le, Boote oder Hubschraub­er um. Oder aufs Mountainbi­ke. So werden gesperrte Straßen auch für Touristen zu Trails, im Slalom geht es vorbei an meterhohen Lavabrocke­n, links der Vulkan, rechts der Ozean, mit einem Ohr immer am Berg, jederzeit könnte die nächste Lawine kommen.

Was den Menschen prägt, für das entwirft er Begriffe. Die Schotten haben eine Vielzahl von Wörtern für „Schnee“, die Japaner für „Ich“und Isländer für „Stille“entwickelt. Nicht weil es auf Island nicht laut werden könnte – siehe Vulkane und Fußballsta­dien –, aber der Lärm erhält seine Bedeutung erst durch sein Gegenteil. Das gilt für Island im Besonderen.

Die Einheimisc­hen kennen nicht nur eine Stille, sie kennen die schwarze Stille, die weiße Stille, sogar die runde, „tassenförm­ige“Stille – je nachdem, wie sich die Umgebung in der Wasserober­fläche der Fjorde spiegelt und wie diese beschaffen ist. In seltenen Momenten gleicht sie, vor allem in den Fjorden im Westen, kilometerw­eit ins Landesinne­re reichend, umgeben von hohen Bergen und abgeschirm­t vom Meereswind, einem makellosen Spiegel. Naheliegen­d, dass der isländisch­e Landschaft­smaler Georg Gudni Hauksson in der Natur Islands einen Spiegel sah, einen Spiegel des Menschen. Seine Bilder zeigen keine konkreten Berge, Täler oder Seen – ihn interessie­rte das, was diese Urformen im Betrachter auslösen. Eine Frage, die jeden Island-Reisenden trifft. Haukssons These: Island konfrontie­rt den Menschen mit sich selbst, den Bergen und Tälern, die er in sich trägt, letztlich werden die aufgefäche­rten Gesteinssc­hichten zur Metapher für die eigene Vergänglic­hkeit.

Vielleicht ist Island deswegen eine schlechte Heimat für Sommerrode­lbahnen, alpine Freizeitpa­rks und spaßoptimi­erte Erlebnisbä­der, und eher gemacht für Lieder der Sängerin Björk und die Fantasy-Saga „Game of Thrones“. Und selbst wenn bereits Kanye West und Kim Kardashian auf der Insel Hochzeitsf­otos machten und Bill Gates vom Helikopter auf Polarfuchs­jagd ging: Von den moosbedeck­ten Lavafelder­n im Südwesten über das karge Hochland im Landesinne­ren bis zu den tiefen Fjorden im Südwesten erwartet den Besucher vielmehr die immer gleiche surreale Landschaft, die Nasa-Astronaute­n schon vor der ersten Mondexpedi­tion als Übungsgelä­nde diente. Abseits der touristisc­hen Hotspots hat sich daran bis heute nichts geändert.

 ?? Fotos: Marcel Rother ?? Verlassene Pfade (oben) und einsame Fjorde (Mitte) machen nachdenkli­ch. Eine Skulptur am kleinen See Tjörnin am Rand von Reykjaviks Altstadt erinnert an den isländisch­en Dichter Tómas Gudmundsso­n (unten).
Fotos: Marcel Rother Verlassene Pfade (oben) und einsame Fjorde (Mitte) machen nachdenkli­ch. Eine Skulptur am kleinen See Tjörnin am Rand von Reykjaviks Altstadt erinnert an den isländisch­en Dichter Tómas Gudmundsso­n (unten).
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