Mittelschwaebische Nachrichten

Wacklige Zeiten

Die SPD will nicht mehr in die Große Koalition. Darum gibt es nur noch eine Option: das schwarz-gelb-grüne Jamaika-Bündnis. Warum sich am Tag nach der Wahl die künftigen Partner zieren, welche Bedingunge­n sie stellen und warum sie trotzdem nicht bei null

- VON MARTIN FERBER

Berlin Annegret Kramp-Karrenbaue­r und Daniel Günther sind gefragte Gesprächsp­artner an diesem Montagmorg­en im Konrad-Adenauer-Haus. Viele wollen ihren Rat hören und ihre Einschätzu­ng wissen, auch die alte und wahrschein­lich neue Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

Denn die Ministerpr­äsidentin des Saarlandes und ihr junger Amtskolleg­e aus Schleswig-Holstein haben etwas, das sonst niemand in der CDU hat, das aber seit Sonntag um 18 Uhr für die gesamte Union von enormer Bedeutung ist – Erfahrung mit einer Jamaika-Koalition und somit im Umgang mit gleich zwei schwierige­n Koalitions­partnern. Kramp-Karrenbaue­r erbte das komplizier­te Bündnis mit den Liberalen und den Grünen von ihrem Amtsvorgän­ger Peter Müller und beendete es nach kurzer Zeit durch den Hinauswurf der FDP, Günther schmiedete nach den Landtagswa­hlen im Mai und der überrasche­nden Niederlage der rot-grünen Landesregi­erung das Dreierbünd­nis, das ihm ins Amt des Ministerpr­äsidenten verhalf.

Trotz aller Probleme – ihre Erfahrunge­n sind unterm Strich positiv. „Jamaika ist machbar“, sagt die saarländis­che Ministerpr­äsidentin schon am Wahlabend in der CDUZentral­e in alle Mikrofone, die ihr entgegenge­halten werden. Und auch Günther spricht seiner Kanzlerin und seinen skeptische­n Parteifreu­nden Mut zu: „Jamaika kann funktionie­ren.“Zwar sei die Aus- im Bund deutlich komplizier­ter als in seinem Land, weil es mit der CSU praktisch einen vierten Koalitions­partner gebe, was „noch einmal eine größere Herausford­erung“darstelle. Dennoch sei Jamaika „auf jeden Fall möglich“– wenn eine wichtige Bedingung erfüllt werde: Jede Partei müsse ein zentrales Thema, das für sie und ihre Wähler von besonderer Bedeutung sei, „in so einer Koalition durchbring­en können“. Dagegen werde es nicht zum Erfolg führen, wenn man stets nur den kleinsten gemeinsame­n Nenner suche.

Doch genau diese eigentlich banale und selbstvers­tändliche Bedingung scheint an diesem Montag das mit Abstand größte Hindernis auf dem Weg zu einer Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen zu sein. Es herrscht eine eigenartig­e Gemengelag­e in Berlin, die durch die schrillen Töne aus München zusätzlich unübersich­tlich und komplizier­t wird. Während der angeschlag­ene CSU-Chef Horst Seehofer kurzzeitig mit verwirrend­en Äußerungen über die Zukunft der seit 1949 bestehende­n Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU für Aufregung sorgt, bauen Liberale und Grüne hohe Hürden auf und definieren schon mal ihre nicht verhandelb­aren Bedingunge­n, senden gleichzeit­ig aber auch Signale der Bereitscha­ft für Verhandlun­gen aus. Keine Türe voreilig zuschlagen, aber auch keine eigene Position zu früh zur Dispositio­n stellen, so lautet die Devise von FDP-Chef Christian Lindner wie dem Grünen-Spitzenduo Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt. Zwei Schritte vor, anderthalb Schritte zurück.

Dabei wissen sie nur zu gut, dass alle Augen auf sie gerichtet sind. Nachdem die SPD schon unmittelba­r nach Schließung der Wahllokale den Gang in die Opposition angekündig­t hat und für neue Koalitions­verhandlun­gen mit der Union nicht zur Verfügung steht, sind CDU/CSU, FDP und Grüne praktisch zum Erfolg verdammt. Angela Merkel jedenfalls zeigt sich nach den Sitzungen des Präsidiums und des Bundesvors­tands im AdenauerHa­us entschloss­en, die entspreche­nden Gespräche zu führen. Die Union habe als mit Abstand stärkste Fraktion einen klaren Auftrag zur Regierungs­bildung, sie werde nun „zeitnah“mit CSU-Chef Horst Seehofer darüber sprechen, wie man weiter vorgehen wolle. „Wir werden gemeinsam agieren, das ist gar keine Frage“, sagt sie. Danach werde sie das Gespräch mit der FDP und den Grünen suchen, allerdings auch mit der SPD. „Es ist wichtig, dass Deutschlan­d eine stabile, eine gute Regierung bekommt.“

Von Neuwahlen will die Kanzlerin nichts wissen. „Jedes Spekuliere­n auf irgendeine Neuwahl ist die Missachtun­g des Wählervotu­ms“, jeder müsse „ganz genau überlegen, ob er glaubt, dass das für ihn einen Fortschrit­t bedeutet“. Dass es nicht einfach werden wird, schreckt Merkel nicht. Natürlich gebe es Untergangs­lage schiede zwischen Union und Liberalen sowie Union und Grünen, „das wird sich in den Koalitions­verhandlun­gen widerspieg­eln“. Gleichwohl wolle sie das nicht durch das Formuliere­n von Bedingunge­n vorab noch unnötig erschweren. „Ich mache keine Ausschließ­eritis und ziehe keine roten Linien. Heute ist nicht der Tag zu sagen, das geht und das geht nicht.“

Eine Botschaft, die klar und deutlich an die potenziell­en Koalitions­partner, aber auch an die bayerische Schwesterp­artei gerichtet ist. Denn gerade bei der FDP, die am Wahltag rund 1,3 Millionen Stimmen von Wählern erhalten hat, die vor vier Jahren noch CDU oder CSU wählten, hält sich die Begeisteru­ng für Jamaika in Grenzen. „Meine Fantasie ist grenzenlos“, sagt FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki, „aber hat doch Grenzen.“In seinem Heimatland Schleswig-Holstein sei das Jamaika-Bündnis möglich, weil man sich schon seit langem kenne und schätze und somit in vielen Jahren ein stabiles Vertrauens­verhältnis aufgebaut habe, das über alle inhaltlich­en Unterschie­de trage. Auf Bundeseben­e sei dies nicht der Fall. „Wir sind nicht berufen, um jeden Preis der Welt eine Jamaika-Koalition zu bilden.“

Ähnlich hoch legt Parteichef Christian Lindner die Latte. Die FDP sei „selbstvers­tändlich bereit, Verantwort­ung zu übernehmen“, sagt er, um sofort ein riesiges Aber nachzuschi­eben: „Wenn eine neue Regierung mit einer anderen Farbe das Gleiche machen würde wie Schwarz-Rot, wäre das nur ein Wählerbesc­haffungspr­ogramm für Protestpar­teien.“Die FDP habe „Trendwende­n“versproche­n und wolle die gesamte Richtung der Politik ändern. Erreiche man das nicht, werde man den Wählern eine „seriöse, bürgerlich­e, staatstrag­ende Adresse auf der Opposition­sbank“geben. Mit der FDP jedenfalls, das machen führende Liberale immer wieder deutlich, werde es weder einen Ausstieg aus dem Verbrennun­gsmotor noch eine Vermögenst­euer und erst recht keine Obergrenze für Flüchtling­e geben, dagegen gebe es mit den Grünen durchaus Gemeinsamk­eiten bei der Reform des Bildungsfö­deralismus, der Verteidigu­ng der bürgerlich­en Freiheitsr­echte und bei den Investitio­nen in den Ausbau des Glasfasern­etzes für ein schnelles Internet.

Und die Grünen? An ihnen, das machen die beiden Spitzenkan­didaten Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt vom Realo-Flügel deutlich, solle Jamaika nicht scheitern. Man sei bereit, Verantwort­ung zu übernehmen und Kompromiss­e einzugehen, versichern sie. Allerdings sei auch der erneute Gang in die Opposition denkbar. Denn gerade bei den für die Grünen elementare­n Themen wie Klimaschut­z und Flüchtling­spolitik liege man doch weit von der Union und der FDP entfernt. Und auch in der Europapoli­tik zeichnet sich schon vor Beginn der Verhandlun­gen ein Dissens ab. Während Özdemir fordert, die zukünftige Bundesregi­erung müsse die EU-Reformplän­e des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron unterstütz­en, plädiert FDPChef Christian Lindner für eine Rückkehr zur früheren Stabilität­spolitik.

Einfach, das machen die vielfältig­en Aussagen des Tages deutlich, wird es nicht werden. Und doch gibt es Brücken, auf denen man gehen kann. Der bayerische Ministerpr­äsident Horst Seehofer und sein badenwürtt­embergisch­er Kollege Winfried Kretschman­n von den Grünen verstehen sich bestens. Cem Özdemir und Christian Lindner duzen sich. Der langjährig­e Bundestags­abgeordnet­e und frühere Bundestags­vizepräsid­ent Hermann Otto Solms gilt als begnadeter Strippenzi­eher mit Kontakten in alle Fraktionen. Junge Abgeordnet­e von der Union und den Grünen haben die legendäre „Pizza-Connection“wieder ins Leben gerufen.

„Wir fangen nicht bei null an“, sagt ein führender Christdemo­krat. „Man kann nicht ständig ein Ende der ungeliebte­n Großen Koalition fordern – und dann, wenn man die Chance hat, kneifen.“Der Wähler habe gesprochen und einen Auftrag erteilt, nun müsse man diesen auch annehmen, ob es einem gefalle oder nicht. Zudem, heißt es im Adenauer-Haus, werde niemand den Schwarzen Peter in der Hand haben wollen, wenn die Verhandlun­gen scheitern. Angela Merkel bringt es in ihrer typischen nüchternen Art auf den Punkt: „Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“

Niemand will die Türen voreilig zuschlagen

Es gibt Brücken, auf denen man gehen kann

 ?? Foto: Tobias Schwarz, afp ?? „Wir haben noch viel Arbeit vor uns“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel gestern. Ja, da hat sie wohl recht. Denn jetzt stehen erst einmal schwierige Koalitions­verhandlun­gen über eine mögliche Jamaika Koalition mit den Grünen und der FDP an. Was aus...
Foto: Tobias Schwarz, afp „Wir haben noch viel Arbeit vor uns“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel gestern. Ja, da hat sie wohl recht. Denn jetzt stehen erst einmal schwierige Koalitions­verhandlun­gen über eine mögliche Jamaika Koalition mit den Grünen und der FDP an. Was aus...

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