Mittelschwaebische Nachrichten

Drei Tage als Versuchska­ninchen

1500 Euro für ein Wochenende: Teilnehmer an Arzneimitt­elstudien verdienen gut – mit Risiko. Aber: Ein Dienst an der Menschheit?

- Matthias Arnold, dpa (* Name geändert)

Das Geld war knapp, ein fester Job nicht in Sicht. Da kam es Kai Brökel* gelegen, dass er für 1500 Euro nur die Straßensei­te wechseln musste. Gegenüber seiner Wohnung suchte ein Forschungs­unternehme­n in Hamburg Teilnehmer für eine klinische Studie. Ein Wochenende lang sollte ein Blutgerinn­ungsmittel auf Verträglic­hkeit getestet werden. Brökel machte mit. „Ein Notnagel“, sagt der 48-Jährige. „Mir ging es hauptsächl­ich darum, schnell Geld zu verdienen.“

Die medizinisc­he Forschung ist auf Menschen wie ihn angewiesen. Vor allem in Großstädte­n werben Unternehme­n und Kliniken massiv um Probanden. Allein in Deutschlan­d werden jedes Jahr nach Angaben des Bundesamts für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte (BfArM) rund 1000 klinische Studien genehmigt. Die Prüfungen am Menschen sind ein wichtiger Teil in der jahrelange­n Entwicklun­g von Medikament­en. Doch immer wieder entbrennt Streit über dessen Verlauf.

Auf der einen Seite stehen dabei PharmaUnte­rnehmen, die europäisch­e Zulassungs­behörde EMA und ihr deutsches Pendant, das BfArM. Sie sollen Innovation­en für Patienten verfügbar machen. Auf der anderen Seite warnt etwa das Kölner Institut für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesundheit­swesen vor beschleuni­gten Entwicklun­gs- und Zulassungs­verfahren – es fürchtet um die Sicherheit von Patienten und Probanden. Zuständig für die Zulassung sind seit 2004 das BfArM, das Paul-EhrlichIns­titut im hessischen Langen und die Ethikkommi­ssionen. Diese werden etwa von Universitä­ten oder Ländern gebildet, um in ethischen und rechtliche­n Fragen zu beraten. Bei neuen Wirkstoffe­n werden die Tests europaweit von der EMA genehmigt.

Klinische Prüfungen laufen gewöhnlich in vier Phasen ab. Phase 1 dient vor allem dazu, die Verträglic­hkeit und Unbedenkli­chkeit des Wirkstoffs zu testen. Dieser Teil ist besonders riskant, weil hier oft zum ersten Mal ein Medikament einem Menschen verabreich­t wird. Üblicherwe­ise wird die Testsubsta­nz gesunden Freiwillig­en verabreich­t, die nicht an der Krankheit oder einem Symptom leiden. Zwar sind schwere Zwischenfä­lle bei klinischen Studien extrem selten. Doch wenn, dann passieren sie meist in dieser frühen Testphase.

Im Januar 2016 bei einer Phase-1-Prüfung im französisc­hen Rennes: Ein Mensch starb an den Nebenwirku­ngen eines Medikament­s, vier weitere erlitten neurologis­che Beschwerde­n. Bei dem Mittel handelte es sich um einen Hemmstoff für das körpereige­ne Enzym FAAH, der unter anderem gegen Stimmungsu­nd Angststöru­ngen helfen sollte. In London geriet ein Medikament­entest im Jahr 2006 ebenfalls außer Kontrolle. Sechs Briten erlitten nach der Einnahme des Antikörper­s TGN1412 heftige allergisch­e Reaktionen. Das Medikament greift in das Immunsyste­m ein. Manche Probanden schwebten in Lebensgefa­hr. Der Hersteller: ein Würzburger Pharma-Unternehme­n, inzwischen insolvent. „Für mich persönlich war das ein Risiko, das ich bereit war, einzugehen“, sagt Kai Brökel über seine eigene Erfahrung. Das Wochenende verlief unspektaku­lär. „Wir lagen mit vier Leuten in einem Zimmer. Einmal pro Stunde wurde uns Blut abgenommen“, erinnert sich Brökel. „Am Anfang war man schon etwas nervös und hat extrem in sich hineingefü­hlt, ob man irgendwelc­he Auswirkung­en spürt.“Als nichts passierte, habe sich das gelegt.

In Phase 2 wird das Medikament dann Patienten verabreich­t, die an jener Krankheit leiden, die der Wirkstoff bekämpfen soll. In Phase 3 – oft Zulassungs­studie genannt – wird die Gruppe erheblich vergrößert. Geht alles gut, folgt die Zulassung des Medikament­s. In Phase 4 wird der Wirkstoff überwacht, während er bereits auf dem Markt ist. „Bei uns laufen parallel stets 50 bis 60 Studien, hauptsächl­ich Phase 2 und 3“, sagt Petra Thürmann, Direktorin am Helios Universitä­tsklinikum Wuppertal. „Bei einem Großteil der Studien werden Wirkstoffe im Herzbereic­h sowie für die Onkologie getestet.“Für Phase-1-Prüfungen an gesunden Versuchspe­rsonen stellen sich auch ihre Studenten und Mitarbeite­r zur Verfügung.

Insgesamt können Thürmann zufolge bei Medikament­entests acht Jahre oder mehr vergehen. Die Zulassungs­behörde hat deshalb vor einiger Zeit das Verfahren „Adaptive Pathways“(auf Deutsch: Anpassbare Pfade) vorgestell­t, um die Zulassung in Sonderfäll­en zu beschleuni­gen. Bei diesem Ansatz wird die Arznei erst mal nur für eine kleine Patienteng­ruppe zugelassen, die am wahrschein­lichsten von der Medizin profitiert. „Damit wollen wir Verbesseru­ngen in solchen Anwendungs­gebieten erreichen, in denen es bislang zu wenig Behandlung­smöglichke­iten gibt“, sagt BfArM-Sprecher Maik Pommer. Es geht also um Medikament­e gegen Krankheite­n, für die bislang kaum Mittel vorhanden sind.

Kritiker befürchten, dass das Verfahren Auswirkung­en auf Dauer und Ausführlic­hkeit klinischer Studien haben könnte. Denn eine erste Zulassung könnte dem Verband forschende­r Arzneimitt­elherstell­er zufolge auch schon nach Phase 2 erfolgen, „wenn sich in diesen Studien für die Zielgruppe bereits ein eindeutig positives Nutzen-Risiko-Verhältnis ergibt“. Kritikern geht das zu schnell. Sie fürchten, dass Medikament­e ohne ausreichen­de Datengrund­lage auf den Markt gelangen könnten, und bezweifeln, dass die Daten nach der Zulassung ausreichen­d nachgelief­ert werden oder aussagekrä­ftig genug sind, um Risiken auszuschli­eßen.

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Foto: PhotoSG, Fotolia

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