Mittelschwaebische Nachrichten

Dieser Ort erschütter­t Norwegen

Tysfjord versinkt in einem schockiere­nden Skandal. Kinder, Frauen und auch Männer wurden dort jahrzehnte­lang missbrauch­t. Warum erst jetzt alles ans Licht der Öffentlich­keit kommt

- VON ANDRÉ ANWAR

Tysfjord Eine Gemeinde am schneebede­ckten Polarkreis macht weltweit Schlagzeil­en und erschütter­t Norwegen. Immer neue Details aus den Polizeierm­ittlungen und von Opfern dringen an die Öffentlich­keit – und das knapp 2000 Menschen zählende, zwei größere Dörfer und ein riesiges Umland umfassende lappländis­che Tysfjord wird zum Synonym für „Albtraum“.

Über Jahrzehnte hinweg wurden dort der Polizei zufolge Kinder, Frauen und auch einige Männer als weitgehend rechtlos angesehen und systematis­ch sexuell missbrauch­t. Es geht um mindestens 151 Fälle sexueller Gewalt, darunter 43 Vergewalti­gungen. Bislang seien 82 Opfer im Alter zwischen vier und 75 Jahren sowie 92 Verdächtig­e identifi- erklärte die Kommissari­n Tone Vangen. Vangen entschuldi­gte sich auch dafür, dass die Polizei lange völlig versagt habe. Erst nach einem Bericht der Zeitung Verdens Gang, kurz VG, aus dem Sommer 2016 – dessen Überschrif­t war „Ein dunkles Geheimnis“– ermittelte sie erstmals ernsthaft und engagiert. Zuvor hatte es viele Hinweise gegeben, auch Verurteilu­ngen. Zu spät: Zwei Drittel der Fälle, die bis ins Jahr 1953 reichen, sind verjährt.

Vor allem die von der landesweit erscheinen­den VG veröffentl­ichte Geschichte von Liv aus dem Dorf Drag, das zu Tysfjord gehört, schockiert die Norweger. Als Liv 14 war, zeigte ein Lehrer ihren Vater wegen sexuellen Missbrauch­s an. Er musste für viereinhal­b Jahre ins Gefängnis. Doch für Liv verschlech­terte sich die Lage noch. Elf Männer aus dem Ort vergewalti­gten das Mädchen danach regelmäßig, weil das Familienob­erhaupt weg war. „Ich war auf einmal Freiwild. Ich bat zu Gott, er möge mir helfen, nun, wo Vater verurteilt wurde, aber es half nicht. Die Übergriffe wurden schlimmer. Die Erwachsene­n wussten, was los ist, aber keiner griff ein“, sagte sie. Ein heute 20-Jähriger erzählte, dass er mit 13 von einer Frau missbrauch­t wurde. Sie kam für ein Jahr ins Gefängnis. Eine 75-Jährige berichtete, dass sie von einem Schamanen vergewalti­gt worden sei, von dem sie sich eigentlich Hilfe erwartet hatte.

„Jahrzehnte­lang schwiegen Opfer und Unbeteilig­te aus Angst vor Repressali­en und aus Loyalität zur hier sehr eingeschwo­renen Gemeinde“, sagt Lars Magne Andreassen vom Kulturzent­rum der mehrheitli­ch inziert, digenen samischen Bevölkerun­g Tysfjords unserer Zeitung. Die Samen gelten als strenggläu­bige Protestant­en, zugleich spielt der Glaube an die magischen Fähigkeite­n von Schamanen eine Rolle für sie. Ausgeprägt ist ihr Misstrauen gegenüber Polizei und sozialen Einrichtun­gen. Denn die Samen wurden einst vom Staat unterdrück­t, „um uns zu anständige­n christlich­en Norwegern zu machen“, wie es Andreassen ausdrückt. „Das Misstrauen in den Staat sitzt bis heute tief in unserer Gegend.“

Das Ausmaß der Missbrauch­sfälle erschütter­t ihn zutiefst. „Es war schockiere­nd zu hören, was die Polizei nun alles herausgefu­nden hat.“Er sei aber auch „stolz“darauf, dass immer mehr Opfer ihr Schweigen brechen. „Das ist hier viel schwierige­r, als man annehmen könnte.“

 ?? Foto: Tore Meek, afp ?? Mindestens 151 Fälle sexueller Gewalt, 82 Opfer, 92 mutmaßlich­e Täter: Das lappländis­che Tysfjord muss jahrzehnte­lang die Hölle auf Erden gewesen sein. Hinweise auf die Verbrechen gab es, doch die Polizei ging ihnen offensicht­lich nicht ernsthaft genug...
Foto: Tore Meek, afp Mindestens 151 Fälle sexueller Gewalt, 82 Opfer, 92 mutmaßlich­e Täter: Das lappländis­che Tysfjord muss jahrzehnte­lang die Hölle auf Erden gewesen sein. Hinweise auf die Verbrechen gab es, doch die Polizei ging ihnen offensicht­lich nicht ernsthaft genug...

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