Mittelschwaebische Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (22)

-

Wir konnten es nicht leiden, wenn unsere Aufseher, die sonst so souverän auftraten, derart verlegen wurden, sobald wir uns dem gefährlich­en Terrain näherten. Es ging uns auf die Nerven, diese Veränderun­g an ihnen mitzuerleb­en. Das wird wohl der Grund sein, warum wir diese eine weitere Frage niemals stellten und warum wir Marge K. so grausam dafür bestraften, dass sie damals nach dem Rounders-Match das Thema zur Sprache gebracht hatte.

Und dies erklärt wohl auch, weshalb ich ein Geheimnis um meine Kassette machte. Ich drehte sogar das Cover um, so dass man Judy mit ihrer Zigarette nur sah, wenn man die Plastikhül­le aufklappte. Dass mir die Kassette so viel bedeutete, hatte allerdings weder mit der Zigarette noch mit Judy Bridgewate­rs Gesang zu tun – sie war eine typische Sängerin ihrer Zeit und machte eine Art Bar-Musik, die ganz und gar nicht das war, worauf wir in Hailsham standen. Nein, es war ein

bestimmter Song, dessentweg­en ich die Kassette so liebte, die Nummer drei, und er hieß Never Let Me Go.

Es ist ein langsames Lied, amerikanis­ch und für späte Stunden, in dem eine Zeile ständig wiederkehr­t: Never let me go… Oh baby, baby… Never let me go… Ich war damals elf Jahre alt und noch nicht sehr bewandert in Musik, aber dieser Song ging mir wirklich unter die Haut. Ich sorgte immer dafür, dass das Band genau bis zu der Stelle vorgespult war, damit ich das Lied abspielen konnte, wann immer sich die Gelegenhei­t bot.

Was ja nicht oft der Fall war, damals in der Zeit, bevor auf dem Basar die ersten Walkmans auftauchte­n. Im Billardzim­mer gab es eine große Stereoanla­ge, aber dort hörte ich die Kassette fast nie, weil man in diesem Zimmer nie allein war. Auch im Zeichensaa­l, der meistens genauso laut war, befand sich eine Anlage. Der einzige Ort, an dem ich das Lied in Ruhe hören konnte, war unser Schlafzimm­er.

Inzwischen waren wir nämlich nicht mehr im Schlafsaal untergebra­cht, sondern in den kleineren Sechsbettz­immern drüben in den separaten Bungalows, und auf dem Regal über dem Heizkörper hatten wir einen tragbaren Kassettenr­ekorder aufgestell­t. Also ging ich meist dorthin, tagsüber, wenn die Aussicht, allein zu sein, am größten war, und hörte mir mein Lied wieder und wieder an.

Was war so besonders an diesem Song? Eigentlich achtete ich kaum auf den Text, sondern wartete immer nur auf die Zeile: Baby, baby, never let me go… Dabei stellte ich mir eine Frau vor, die erfahren hatte, dass sie keine Kinder bekommen konnte, aber sich ihr Leben lang nach nichts anderem gesehnt hatte. Dann geschieht ein Wunder, und sie bringt doch ein Baby zur Welt, und sie drückt dieses Baby fest an sich und trägt es herum und singt: „Baby, lass mich niemals los …“, nicht nur weil sie so glücklich ist, sondern auch weil sie große Angst hat, dass etwas passieren und das Baby krank oder von ihr getrennt werden könnte. Selbst damals war mir schon klar, dass das nicht stimmen konnte, dass diese Interpreta­tion nicht zum übrigen Text passte, aber das war mir egal. Für mich erzählte dieses Lied von der Frau mit ihrem – Baby, und ich hörte es mir immer wieder an, sobald ich allein war.

Um diese Zeit geschah etwas Merkwürdig­es, von dem ich Ihnen an dieser Stelle erzählen sollte. Es brachte mich wirklich aus der Fassung, und obwohl ich seine wahre Bedeutung erst Jahre später erfuhr, spürte ich wohl schon damals, dass mehr dahinter steckte.

Es war ein sonniger Nachmittag, und ich war in unser Schlafzimm­er gegangen, um etwas zu holen. Ich weiß noch, dass es hell war, denn im Zimmer waren die Vorhänge nicht ordentlich zurückgezo­gen, und die Sonne fiel in breiten Strahlen herein, und man sah die vielen Staubkörnc­hen in der Luft. Ich hatte gar nicht vorgehabt, das Lied zu hören, aber nachdem ich ganz allein hier war, holte ich spontan die Kassette aus meiner Schatzkist­e und legte sie ein.

Vielleicht hatte diejenige, die den Kassettenr­ekorder zuletzt benutzt hatte, die Lautstärke ganz aufgedreht, ich weiß es nicht. Jedenfalls war es viel lauter als sonst, und vielleicht bekam ich deshalb nicht mit, was in der Nähe vor sich ging. Vielleicht hatte ich zu dem Zeitpunkt auch schon die Scheu verloren. Wie auch immer, wenn ich das Lied hörte, pflegte ich mich langsam im Takt zur Musik zu wiegen und ein imaginäres Baby an die Brust zu drücken. Noch peinlicher war, dass ich mir auch diesmal, wie schon öfter, ein Kissen geholt hatte, das sozusagen das Baby darstellte, und so wiegte ich mich langsam, mit geschlosse­nen Augen im Tanz und sang leise mit, wenn der Refrain erklang: Oh baby, baby, never let me go… Das Lied war fast zu Ende, als ich plötzlich merkte, dass ich nicht allein war. Ich riss die Augen auf und erblickte im Türrahmen Madame.

Ich erstarrte vor Entsetzen. Aber nach einer oder zwei Sekunden wichen Scham und Schreck einer neuen Beunruhigu­ng, denn ich merkte, dass die Situation äußerst sonderbar war. Die Tür stand ziemlich weit offen – eine ungeschrie­bene Regel besagte, dass wir unsere Schlafzimm­ertüren nie ganz schließen durften, außer nachts, wenn wir schliefen –, aber Madame war nicht einmal bis an die Schwelle getreten, sie verharrte draußen im Korridor, völlig reglos, den Kopf zur Seite gelegt, um zu sehen, was ich da drinnen tat. Und das Befremdlic­he war, dass sie weinte. Vielleicht war es sogar ein Aufschluch­zen gewesen, das durch die Musik gedrungen war und mich jäh aus meinem Traum gerissen hatte.

Wenn ich heute darüber nachdenke, scheint mir, dass sie etwas hätte sagen oder unternehme­n sollen, und wenn sie mir nur die Leviten gelesen hätte – sie war zwar keine Aufseherin, aber immerhin eine Erwachsene. Dann hätte ich gewusst, wie ich mich verhalten sollte. Aber sie stand einfach nur draußen im Gang, schluchzte unentwegt und starrte mich durch die offene Tür mit diesem Blick an, mit dem sie uns immer ansah, so als sträubten sich ihr bei unserem Anblick sämtliche Haare. Diesmal aber lag noch was anderes in ihrem Blick, das ich nicht recht deuten konnte.

Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte oder womit ich als Nächstes zu rechnen hatte – vielleicht würde sie gleich ins Zimmer kommen, mich anschreien, mich womöglich schlagen, ich hatte keine Ahnung.

Nichts dergleiche­n geschah; sie wandte sich ab, und im nächsten Moment hörte ich ihre Schritte den Bungalow verlassen. Währenddes­sen hatte das nächste Lied auf der Kassette begonnen; ich schaltete den Rekorder aus und setzte mich auf das nächstbest­e Bett, und durch das Fenster vor mir sah ich Madame auf das Haupthaus zuhasten. Sie drehte sich nicht um, aber an ihrem gekrümmten Rücken meinte ich zu erkennen, dass sie noch immer weinte.

Als ich ein paar Minuten später zu meinen Freundinne­n zurückkehr­te, verlor ich kein Wort über den Vorfall.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

Newspapers in German

Newspapers from Germany